Schulweg und Schule & In Papis Büro

Aus: Salome Tournsol, Geborgen im Sonnenlicht

Schulweg und Schule

1975

Salome ist auf dem Schulweg. Sie geht auf dem Grasstreifen neben dem Trottoir. In ihrer Vorstellung ist sie Heidi, auf dem Weg zu Grossvater und Geissenpeter. Sie fühlt sich der Natur verbunden, eingebettet in eine heilige Stille der Bergwelt, so wie sie das in den Ferien auf der Bettmeralp schon erlebt hat: Auf einer Wanderung mit der Familie hörten sie einen Bach laut rauschen, und als sie diesen hinter sich gelassen hatten, war es einfach still, wunderbar still. Salome liess die anderen voraus gehen, blieb absichtlich ein Stück zurück, um diese Ruhe auszukosten.

Einmal, ebenfalls auf der Bettmeralp, hat Papi sie und Thomas an einen Berghang mitgenommen, wo viele herzig und lustig aussehende Murmeltiere auf Steinen sassen oder umher wuselten. Da tönte plötzlich ein schriller Pfiff. – Ein Tier hatte seine Artgenossen gewarnt und flugs verschwanden alle in einem Loch oder hinter einem grossen Stein. Salome war ganz entzückt, diese kleinen, wilden Tiere beobachten zu können. Wie es sich wohl anfühlte, als Murmeltier in den Alpen zu leben, in diesen dunklen Gängen unter der Erde?

Salome ist am Ende des Grasstreifens angelangt und «erwacht» aus ihrem Tagtraum. Noch zweimal führt ihr Weg um die Ecke, dann ist sie in der Schule.

Sie geht gerne zur Schule und findet ihre erste Lehrerin, Frau Wasser, sehr nett. In der ersten Klasse darf täglich ein anderes Kind sein Lieblingsspielzeug mit zur Schule nehmen, solange, bis alle, die das möchten, etwas mitgebracht haben. Salome hat nicht ein einziges Lieblingsspielzeug, sondern viele. Am allerliebsten sind ihr aber ihre Puppen und Plüschtiere. Als sie an der Reihe ist, entscheidet sie, dass ihre ganze Bärenfamilie sie in die Schule begleiten soll. Da es nicht nur ein einziger Bär ist, also genau genommen mehr als ein Spielzeug, schlägt ihre Mutter vor, alle Bären in einen Korb zu packen. So hat Salome mit dem Korb eine Sache und kann in der Klasse doch die ganze Bärenfamilie vorstellen: Mausika, die Bärenmutter, dann Max und Maxina, die grossen Bärenkinder, Belawarda und Belawardina, die kleinen Bärenkinder und Mäxchen, das winzigste Bärchen, das kleiner ist als Salomes Hand. Sie trägt den Korb stolz zur Schule. Als sie ihre Bären vorstellen möchte, ist sie so aufgeregt, dass sie gar nicht mehr weiss, was sie sagen soll. Zum Glück ist Frau Wasser da, die sie ermutigt, zunächst einfach mit dem Bärenkorb bei den Kindern vorbei zu gehen. Danach ist Salome glücklich, dass sie ihre Bärenfamilie allen zeigen und die einzelnen Bären mit Namen vorstellen konnte.

Salome hat ihre Lehrerin sehr gern. Wenn die Schule aus ist, würde sie jeweils am liebsten noch ein wenig bei ihr bleiben. Eines Tages fragt Salome Frau Wasser, was sie denn mache, wenn die Schule aus sei und alle Kinder heim gingen. «Es gibt immer noch etwas aufzuräumen oder Zeichnungen aufzuhängen oder etwas vorzubereiten für den Nachmittag», erklärt ihr Frau Wasser. «Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen?», fragt Salome. Von da an räumt Salome um 12 Uhr sehr langsam ihren Platz auf, so dass sie erst fertig ist, wenn alle anderen Kinder schon gegangen sind. Dann kann sie Frau Wasser helfen, etwas aufzuräumen oder Farbstifte zu spitzen. Und vor allem kann sie dann ganz allein bei Frau Wasser sein, und sie können zusammen plaudern. Manchmal kommt sie danach zu spät zum Mittagessen. Dass ihre Tochter der Lehrerin beim Aufräumen hilft, wundert die Eltern. Oder muss sie gar länger bleiben und helfen? In einem Gespräch mit Frau Wasser wird das geklärt und auch der Zeitpunkt festgelegt, wann spätestens Frau Wasser Salome heimschicken solle. Salome ist sehr froh, dass ihr das «Einzelstündchen» bei ihrer lieben Lehrerin weiterhin gewährt wird.

In Papis Büro

1974

Das Büro von Salomes Vater befindet sich daheim, im Erdgeschoss des Wohnhauses. Darin steht Papis Zeichenbrett, auf dem milchig-durchsichtiges Papier aufgespannt ist. Manchmal zeichnet ihr Vater darauf Pläne. Das macht er nie in der Werkstatt, sondern immer zu Hause in seinem Büro. Auch ein Schreibtisch mit einer grossen Schublade steht in diesem Zimmer. Auf dem Tisch und in der Schublade befindet sich allerhand: Eine riesig grosse Schere, Leim, eine Tabakdose voller Büroklammern, die noch immer herb nach ihrem ursprünglichen Inhalt riecht, Radiergummis und vieles mehr. Wenn Salome bastelt, findet sie hier oft, was sie dazu benötigt.

Die beiden Meerschweinchen von Salome und Thomas, Saba und Fratz, haben ebenfalls in Papis Büro ihr zu Hause. In der einen Zimmerecke steht der kleine Stall mit Heu und einem selbstgebastelten Häuschen aus einer Kartonschachtel, in dem sich die Tiere verkriechen können. An der selben Wand steht das dunkelbraune Klavier. Manchmal spielt die Mutter darauf, manchmal der Vater. Und wenn die Eltern weg sind, und die Grossmutter auf Salome und Thomas aufpasst, begleitet diese Lieder auf dem Klavier, die sie zu dritt zusammen singen, etwa «Chumm mir wei go Chrieseli günne» oder «Weisst du wieviel Sternlein stehen». Dabei wird es Salome ganz feierlich zu Mute.

Als Salome sechs Jahre alt ist, darf sie mit Papis Hilfe, in seinem Büro ein Geschenk für ihre Mutter anfertigen. Salome und ihr Vater weben auf einem kleinen Webrahmen ein Plätzchen, das Salomes Grossmutter zu einem Nadelkissen zusammen nähen wird. Damit die Mutter nichts davon mitbekommt, schliessen sich ihr Vater und sie jeweils im Büro ein. Salome freut sich darauf, Mami am Muttertag mit ihrem Geschenk überraschen zu können. Sie ist stolz, dass sie nun weben und dieses Geschenk selbst herstellen kann. – Aber es ist ihr nie wohl, dass ihr Vater das Zimmer abschliesst.
Nach dem Weben versteckt der Vater jeweils das angefangene Muttertagsgeschenk. Er sagt zu Salome: «Wir sagen Mami gar nichts von all dem, was wir hier zusammen machen!»

Neben dem Geheimnis für den Muttertag hat Salome noch eine andere «geheime Erinnerung» ans Zusammensein mit ihrem Vater in dessen Büro. Diese Erinnerung ist bruchstückhaft. Einzelne Details des Zimmers, sind fast fotografisch in Salomes Kopf aufgezeichnet, obschon es sich dabei um völlig unwichtige Dinge handelt in Bezug zu dem, was ihr passierte. Allerdings half ihr das fokussierte Wahrnehmen dieser Details, alle überwältigenden Empfindungen und Gefühle möglichst nicht zu spüren:

Die orangen Vorhänge in Papis Büro sind zugezogen, angeblich wegen der Sommerhitze. Der grobgewobene orange Stoff leuchtet schön und warm. Salome hört, wie Saba und Fratz, die beiden Meerschweinchen im Heu rascheln. Wieder sind Salomes Vater und sie zusammen in diesem Zimmer. Wieder soll Mami und auch sonst niemand wissen, was sie beide hier hinter verschlossener Tür zusammen machen.

Auf dem roten, höhenverstellbaren Drehhocker liegt Salomes weisse, feingemusterte kurze Hose. Sie selbst liegt auf dem kratzigen grauen Nadelfilzteppich auf dem Rücken. Über sich sieht Salome die Lampe, die an der Decke hängt. Sie ist aus Metall, aussen rot, innen weiss. – Salome ist ganz starr, entsetzt, voller Angst. – Es hilft, die Lampe anzuschauen. Und Papis graue Fischgrat-Jacke hängt an der verschlossenen Bürotür an einem Haken. Und das Körbchen mit seinen Tabakspfeifen auch. Daran hält sich Salome mit ihrem Blick fest. Das hilft. So bleibt sie «weit weg» von dem, was mit ihr geschieht, von den Berührungen, die sie erstarren lassen…

Später ist Salome wieder ganz angezogen. In ihrer weissen, feingemusterten kurzen Hose geht sie leise in den Garten. Sie ist allein und will allein sein. Sie versteckt sich hinter der grossen Linde, ihrem Lieblingsplätzchen. Die Sonne scheint. Zum Glück scheint die Sonne.

 
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Horst und seine Huskys

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an den faulig riechenden Obstkeller