Horst und seine Huskys

Aus: Nadja Brüderli, Wasser

Man sieht sie oft im Rhein, die drei Punkte, schön aufgereiht nebeneinander, in der Mitte ein Menschenkopf, links und rechts ein Hundekopf, Horst und seine Huskys. Sie schwimmen im Rhein immer um die gleiche Zeit. Nachmittags um 15 Uhr bricht er auf der Horst, pfeift Haines und Healy, seine beiden treuen Begleiter, und verlässt seine Wohnung im 5. Stock ohne Lift im Kleinbasel. Die Hunde sind aufgeregt. Endlich ist der Moment da, auf den sie schon den ganzen Tag warten. Ungeduldig rennen sie die Treppe runter und warten widerwillig beim Eingang. Immer diese Warterei, der Horst ist einfach zu langsam, aber kein Wunder, wenn man nur zwei Beine hat. Aber was kann er dafür, er hatte halt nicht das Glück, in einen muskulösen, agilen Hundekörper geboren worden zu sein wie sie. Sie behandeln ihn mit Nachsicht. Und Respekt. Er ist ihr Anführer, zwei Beine hin oder her. Sie rennen vor ihm her, immer schön die Fussgänger umrundend, immer wieder ungeduldig und nachsichtig wartend an dieser oder jener Ecke. Sie nehmen sich Zeit, die Umgebung zu lesen. Mit ihren feinen Hundenasen lesen sie die Stadt wie eine Zeitung. «Ah, Fred ist um neun Uhr hier vorbeigekommen. Es geht ihm gut, etwas erkältet, aber nicht schlimm. Und hier Shila, die eingebildete Spitzhündin von Julian drei Häuser weiter, sie leidet unter Verdauungsbeschwerden, geschieht ihr recht dem Biest! Oder an dieser Ecke hat Waldemar markiert: Alles gute Jungs, hoffe, ich Treff euch demnächst wieder!» Herrlich so ein Schnüff!

Inzwischen hat auch Horst etwas aufgeholt. Er könnte auch mit dem E-Velo neben den beiden herfahren, aber das gibt ihm der Stolz nicht zu und das alte Velo hat eine Acht. Aber für Herz-Kreislauf tipptop, denkt er sich und seine Schritte werden mit jedem Meter schneller und leichter. Er ist fit für sein Alter. Kein Wunder, denn Horst ist ein Ganzjahresrheinschwimmer.

Früher, ja, früher war alles ganz anders. Als Manager eines grossen Unternehmens war er immer nur am Arbeiten, hat alles der Arbeit untergeordnet, heute würde man Workaholic dazusagen. Keine Zeit für Frau, Familie, Kinder, Freunde. Horst war mit der Arbeit verheiratet, bis diese ihn total ausgequetscht hat fallen lassen. Herzinfarkt mit 45 Jahren, er erinnert sich noch an die blauen Lichter, an das Geräusch der Sirenen, an die mitleidigen Gesichter der Kollegen. Es ging lange, bis Horst wieder einigermassen auf dem Damm war. Zu lange. Die Firma kündigte ihm, gab ihm eine grosse Abfindung und Tschüss.

Horst fiel in ein Loch. Er merkte, ohne die Arbeit hat er nichts in seinem Leben. Das Loch war gross und schwarz. Dank der grossen finanziellen Reserve, die er sich in all diesen Jahren, in denen er keine Ferien gemacht und sich nichts gegönnt hatte, angespart hatte, konnte er in die schönste und renommierteste psychiatrische Klinik gehen. Dort kam er langsam wieder auf die Beine, lernte zu Leben und was damit anzufangen war ausserhalb der Arbeit. Und er verliebte sich in Sanja, die Husky-Hündin der Klinik. Es war gleich so eine Verbindung da. Von der ersten Sekunde an, als Horst eintraf, wich Sanja nicht mehr von seiner Seite. Als würde sie spüren, wie alleine und verloren er war. Horst verbrachte jetzt viel Zeit draussen, mit Sanja. Sie unternahmen lange Spaziergänge, lagen unter den schönen, alten Bäumen des Klinikparks und Horst fing an, in den nahe gelegenen Fluss zu gehen. Zuerst zögerlich, denn der Fluss war kalt, sehr kalt. Doch langsam, Zentimeter für Zentimeter, kämpfte sich Horst vor. Nach einer Woche stand er ganz drin. Und dann geschah das Überraschende. Als hätte Sanja genau auf diesen Moment gewartet, stürzte sie sich ins kalte Wasser und schwamm zu Horst. Dieser war baff. Das hätte er nicht erwartet, und er freute sich riesig.
Von diesem Tag an schwammen die beiden zusammen. Jeden Tag. Bei jedem Wetter, ob warm oder kalt. Es war schon eine kleine Sensation, wenn Horst und Sanja ihr Bad nahmen. Die Patienten und das Personal der Klinik versammelten sich und applaudierten und stiessen bewundernde Rufe aus. Ja, es war eine gute Zeit für Horst, wahrscheinlich die beste seines Lebens. Nach sechs Monaten hiess es dann Abschied nehmen. Es brach ihm das Herz, Sanja zurück in der Klinik zu lassen. Aber sie war nun einmal die Klinikhündin und als solches für das Wohl der Patienten zuständig. Traurig fuhr Horst nach Hause. Dort angekommen, wartete nichts auf ihn. Die grosse kalte Wohnung, welche die grösste Terrasse der Stadt hatte, hielt keine Wärme für ihn bereit. Da half kein Bad im Whirlpool, kein Aufenthalt in der eigenen Sauna, kein Sonnenbad im eigenen Solarium. Es waren Dinge und als solche konnten sie ihm nicht das geben, was sein Herz brauchte. Er versuchte unter Leute zu gehen. Aber irgendwie klappte das nicht richtig. Horst wusste nicht, was er mit ihnen reden sollte. Er redete über die Arbeit, merkte aber bald, dass das entweder niemanden interessierte oder die falschen Menschen anzog, die Geld witterten. Er fiel ein paar Mal darauf rein. Auf Männer, die einen auf besten Freund machten und auf Frauen, die so taten, als würden sie sich für ihn interessieren. Aber am Ende blieb nur die Enttäuschung. Horst wusste nicht, wie er sich in einer Welt ohne Arbeit bewegen sollte. Das Gefäss fehlte, er drohte auseinanderzufliessen. Arbeit fand er keine mehr auf seinem Gebiet, er war zu lange weggewesen und für diese Branche steinalt. Und man brauchte das, was er anzubieten hatte nicht mehr, Horst, der Dinosaurier.

Rein finanziell hatte er es nicht mehr nötig zu arbeiten. Aber er wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Eines Tages, der Himmel strahlte in einem kalten Grau und die Vögel fingen gerade an ihr Morgenlied anzustimmen, trat er hinaus auf seine Terrasse, setzte zuerst einen, dann den anderen Fuss auf das Geländer, das die Terrasse umfing und sprang. Mehr wusste er nicht mehr.

Er erwachte zwei Wochen später aus einem künstlichen Koma mit mehreren Brüchen im Spital. Doch etwas war hier, etwas, dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte, Wärme. Und er bewegte den Kopf und sah, dass neben sein Bett ein Korb gestellt worden war und darin lag Sanja.
Sie sprang auf und war über und überglücklich, bellte, hüpfte, rannte wie wild im Zimmer herum und Horst lachte und lachte und lachte, weinte und weinte und weinte vor unbändigem Glück.
Die Ärzte und die Schwestern kamen angerannt, aufgescheucht durch den Lärm und konnten ihren Augen nicht trauen.
Der schon aufgegebene Patient aus Zimmer 422 hatte tatsächlich wieder zurück ins Leben gefunden, ein Wunder war geschehen. Keiner hatte daran geglaubt, ausser Lars, der Klinikdirektor der psychiatrischen Klinik in der Horst gewesen war. Er wusste um die Kraft, die Sanja Horst damals gegeben hatte, und hatte alle Hebel in Bewegung gesetzte, damit Sanja zu Horst kommen und ihn heilen konnte. Und so geschah es. Und diesmal blieb Sanja bei Horst. Und ein neues Leben begann für Horst.

Er verkaufte die Wohnung mit all den kalten, nutzlosen Dingen und zog in eine kleine Altbauwohnung im Kleinbasel, in der das Parkett quietschte, er die Nachbarn nebenan lachen und sich lieben hörte und ihn die Vögel am Morgen vom nahe gelegenen Kirschbaum weckten. Und Sanja, immer wieder Sanja. Er machte sich viele Freunde mit ihr, alle liebten sie und wollten sie streicheln. Und er fing sein Ritual mit dem Schwimmen im Fluss wieder an.

Bei einem Spaziergang entdeckte er die perfekte Strecke, nicht zu kurz und auch nicht zu lange.
Von da an gingen die beiden jeden Tag um 15 Uhr aus dem Haus, liefen den Rhein aufwärts bis zu besagter Stelle. Horst zog seine Badehose an und er und Sanja wateten ins Wasser.
Schmatzend nahm es sie auf, umfing und umschmeichelte sie und getragen von ihrem geliebten Fluss, schwammen die beiden eine kurze glückselige Weile, bis sie kurz vor der nächsten Brücke das erquickende Nass verliessen. Er fühlte sich danach immer so lebendig, so voller Kraft und Sanja schien es gleich zu gehen. Nach dem Schwumm zog Horst seine Kleider aus dem Schwimmsack wieder an und sie gingen beide in Gedanken versunken nach Hause.
Es war immer der Höhepunkt des Tages, wenn sie zum Schwimmen losgingen. Sanja war wie ein Wecker, pünktlich um 14.55 Uhr schnappte sie Horsts Schwimmsack und Horst wusste, was Sache war. Viele Jahre blieben sie diesem Ritual treu. Sie gingen wieder bei jedem Wetter, ob Sommer oder Winter, ob Wind oder Regen und auch Schnee schreckte sie nicht ab.

Sanja wurde älter. Natürlich wusste Horst, dass sie nicht ewig leben würde, aber er konnte sich ein Leben ohne sie einfach nicht mehr vorstellen, sie, die ihm immer treu zur Seite gestanden hatte.
Es fing an mit einem kleinen Hinken am Hinterlauf, die Hüfte, meinte der Tierarzt, sie ist halt nicht mehr die Jüngste. Beim Schwimmen merkte man ihr nichts an, aber das Laufen bereitete ihr zusehends Mühe. Sie, die vorher immer leichtfüssig vor Horst hergetrabt war, blieb jetzt hinter ihm zurück und Horst musste immer wieder anhalten und auf sie warten. Aber das störte ihn nicht. Er hatte gelernt, das Leben langsamer und achtsamer anzugehen und die kleinen, feinen Momente, die wie Blütenblätter über den Tag verstreut lagen, zu bemerken und sich darüber zu freuen.

Einem Schmetterling auf einer Blume zuzusehen, wie er sich leicht im Wind wiegte und sich ausruhte. Den Weg eines Blattes zu verfolgen, welches vom Wind mal hierhin, mal dorthin getragen wurde oder den süssen und verführerischen Duft einer Bäckerei, an der sie gerade vorbeiliefen, einzusaugen und sich vorzustellen, was man alles in der Auslage kaufen konnte. Sanja war dankbar für die Geduld, die Horst bei ihr an den Tag legte und dass sie jetzt auch die Fähre nahmen, um über den Fluss zu setzen, um den Weg zum Birsköpfli zu verkürzen.

Der Winter kam und er wurde streng. Es schneite viel, der Wind blies ihnen steif um die Ohren und machte Hände und Pfoten klamm. Durch die Kälte verschlimmerte sich auch Sanjas Hüftarthrose so, dass sie fast nicht mehr laufen konnte. Sie gingen jetzt nicht mehr Schwimmen und Horst sass nun viel an Sanjas Korb und streichelte sie und redete ihr gut zu. Er wusste, dass es bald mit ihr zu Ende war. Sie hatte jetzt keine Kraft mehr und frass auch fast nichts mehr. Sie war 19 Jahre alt, ein stattliches Alter für so einen Hund.
Sie bekamen viel Besuch; von Nachbarn, von den Menschen, die sie oft während ihrer Spaziergänge getroffen hatten, von den Hunden, die Sanja kannten. Alle wollten sie sich nochmals von diesem aussergewöhnlichen Hund verabschieden, einem Tier, das stets Wärme ausstrahlte und diese an seine Mitwesen weitergab. Und eines Morgens im Januar, es war noch dunkel und Horst war gerade von einer Alarmanlage eines Autos geweckt worden, war Sanja tot. Horst war unendlich traurig. Er hatte es schon lange gewusst und doch konnte er es nicht glauben. Er nahm den Hund in die Arme, drückte seinen Kopf in das weiche Fell, wiegte ihn hin und her und weinte und weinte und weinte. Er weinte drei Tage lang und hielt das Tier während dieser Zeit festumklammert in seinen Armen. Er ass nichts, er trank nichts und er wollte den Korb nicht mehr verlassen.
Julian machte sich Sorgen und gemeinsam mit Rolf, seinem WG-Partner, lösten sie den Griff von Horst um Sanja, trugen ihn ins Bett, deckten ihn zu, kochten ihm essen, machten Tee und kümmerten sich die nächsten Tage hingebungsvoll um dem leidenden Horst. Sie vereinbarten, dass Sanja kremiert und im Garten beigesetzt werden sollte. Und so geschah es. Es war eine grosse Trauerfeier, die zu Sanjas Ehren abgehalten wurde. Horst hielt eine ergreifende Rede und viele Gäste erzählten Geschichten über Sanja, lasen Gedichte vor und die Kinder hatten Zeichnungen von ihr mitgebracht. Auch Lars war gekommen. Es war ein schönes Fest mit einem grossen Feuer, auf dem Suppe für alle gekocht wurde und wer wollte, konnte sich eine Cervelat braten. Gegen den späten Abend, als fast alle Gäste gegangen waren, setzten sich Horst und Lars hin, machten eine Flasche Wein auf und stiessen nochmals auf Sanja an.

«Wo denn die Toilette sei», wollte Lars wissen und Horst zeigte sie ihm. Als er die Toilettentüre aufmachte, stand mitten im Badezimmer ein Tragekorb und in dem Tragekorb sassen zwei kleine Huskys, Healy und Haines. Horst war total überrumpelt, wusste nicht, ob er sich freuen oder weinen sollte. Er war doch noch nicht bereit für eine neue Hunde-Liebe und dass dann noch im Doppelpack. Doch Lars nahm ihn stumm beim Arm und führte ihn zu Horsts Lieblingsohrensessel, ein abgewetztes Ding in Rot und Samt. Er bettete Horst fürsorglich darauf und fing an zu sprechen.
Er erklärte ihm, warum es gerade jetzt so wichtig sei einen oder in diesem Fall zwei neue Hunde aufzunehmen. Er hatte die beiden von der gleichen Zucht, von der auch schon Sanja stammte, geholt und eigentlich nur Healy mitnehmen wollen. Doch Healy wollte partout nicht ohne Haines mitkommen, die beiden waren seit ihrer Geburt unzertrennlich und es hätte Lars das Herz gebrochen, wenn er nur den einen mitnehmen und den anderen hätte dalassen müssen.
Und er wusste auch, Horst hatte Platz und Zeit für zwei Hunde. Sie würden ihm helfen, über den Verlust von Sanja hinwegzukommen und waren gleichzeitig eine gute Rückfallprophylaxe.
Horst wusste, dass er recht hatte, dass er sonst den Boden unter den Füssen wieder verlieren würde. Und er kümmerte sich um Haley und Haines, so, wie er sich um Sanja gekümmert hatte, und Haley und Haines kümmerten sich um Horst, so, wie Sanja es getan hatte. Und Horst wurde wieder fröhlich, ging wieder raus mit den Hunden unter Menschen und fühlte sich gebraucht und nicht mehr so alleine auf dieser Welt. Und er ging wieder im Rhein schwimmen, Haley immer zu seiner rechten und Haines immer zu seiner linken Seite, drei Punkte, schön aufgereiht nebeneinander wie eine Perlenkette, die sanft den Fluss hinuntertreibt.

 
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