plötzlich einer von denen

Aus: Raphael Petit, plötzlich einer von denen

Sie schaut mich unverwandt an. Seit Minuten. Ich frage mich, was ihr wohl durch den Kopf geht. Dann frage ich mich, ob ihr überhaupt etwas durch den Kopf geht. Sie schaut mich weiterhin aus grossen Augen an, darunter mahlt ihr Mund. Sie schliesst ihn nicht während dem Essen, es klingt dementsprechend und alle paar Sekunden fallen ein paar zermalmte Essensbestandteile aus dem Mund. Zwei Speichelstreifen, durchsetzt von kleinen Speiseteilchen, laufen über ihr Kinn ab. Das scheint sie nicht zu kümmern, oder es fällt ihr gar nicht auf. Die Pflegerin neben ihr schiebt ihr mit derselben Gelassenheit Essen mit dem Löffel nach, ab und an wird das Kinn mit dem auf dem Tisch liegenden Waschlappen abgewischt.

Sie heisst Sandra und sitzt mir gegenüber. Auch neben mir sitzt eine Pflegerin und löffelt mir das Essen ein. Ich kann das nicht mehr selber, seit ich die Kontrolle über meine Hände verloren habe. Heute ist mein erster Abend im Heim für Menschen mit körperlicher Behinderung. Die Pflegerin neben mir plappert irgendwas, ich nicke und lächle.

Ich schaue mich im gefüllten Speisesaal um. Überall spielen sich ähnliche Szenen ab wie an meinem Tisch, an jedem Tisch sitzen Menschen mit Behinderung. Jedoch nicht solche, wie ich mir aus dem Paraplegiker Zentrum Nottwil gewöhnt bin. Sprich Menschen mit normalem Körperbau, die im Rollstuhl sitzen. Die Menschen hier sind vielfältiger, teils kleinwüchsig, mit unterschiedlich langen Beinen oder Armen oder verdrehten Gliedmassen. Auch sprechen sie zum Teil unverständlich. Am Nebentisch sitzt eine ältere Frau, die wie ein Tropfen geformt ist. Sie hat eine hochgesteckte, spitz zulaufende Frisur, darunter einen Kopf mit einem Hals, der fast breiter als ihr Kopf ist und nahezu nahtlos in schmale Schultern übergeht. Zu den Schultern schauen zwei Händchen heraus. Von da an wird es immer breiter. Unter dem Brustkasten kommt ein umfangreiches Becken, das im Elektrorollstuhl sitzt und diesen ausfüllt. Vorne schauen zwei Füsschen raus. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Frau anstarre. Ich mache mich damit desselben Vergehens schuldig, welches ich selbst meinen Mitmenschen ohne Behinderung in Bezug auf mich schon vorgeworfen habe.

Hier und da sitzen eine Pflegerin oder ein Pfleger mit am Tisch, die Essen eingeben oder sonst unterstützen. Es wird laut gehustet, gelacht, gesabbert und geredet. Auch andere scheinen Mühe zu haben, dass Essen während dem Kauen im Mund zu halten. Die Pflegerin nebenan schaufelt Essen rein, putzt ab, schaufelt, putzt. Gleichzeitig plappert die junge Frau von irgendwas, als wäre das alles gar nichts.

Da fängt am Nebentisch plötzlich ein älterer Herr an zu jodeln. Oder es klingt wie jodeln, wenn er in schneller Folge laut zwischen zwei Tönen hin und her wechselt. Sofort sind mehrere Pflegende bei ihm und helfen, ihn vom Stuhl zu nehmen und vorsichtig auf den Boden zu legen. Dort angekommen, hört er auf zu jodeln und liegt still da. Rolf habe einen epileptischen Anfall, informiert mich die für mich zuständige Pflegerin ungefragt. So sieht das also aus. Nach einigen Minuten kann Rolf wieder aufstehen und wird von zwei Pflegenden aufs Zimmer gebracht.

Der Raum ist inzwischen wieder zum Zustand von vor dem Zwischenfall zurückgekehrt. Es wird geredet und gelacht, gesabbert und gehustet. Ein junger Mann rülpst laut und schaut dann zufrieden in die Runde, als würde er Beifall erwarten. Sandra schaut mich weiterhin an, mahlt, sabbert, mahlt. Mir geht durch den Kopf, dass ich ja jetzt auch einer von denen bin. Einer von denen, die ich vor meinem Unfall jeweils mit einer Mischung aus Angst und Neugier betrachtet habe, jedoch immer aus sicherer Distanz. Jetzt bin ich mittendrin.

Am Nebentisch hustet ein junger Mann. Obwohl offenbar bemüht, schafft er es jeweils erst beim zweiten Mal Husten seinen Waschlappen vor den Mund zu halten, so schnell scheinen ihn diese Hustenanfälle zu überfallen. Alle anderen reagieren nicht. Ich scheine der Einzige zu sein, dem die Enormität dieses ganzen Schauspiels auffällt. Da geht mir auf, was mir wie ein Alptraum vorkommt, ist für diese Leute Normalität. Das einzig Neue für sie bin ich.

Denn ich bin der Neue hier. Hier ist meine Zukunft. Von nun an bin ich einer von denen, ein neuer Mensch in der Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung. Ob mir das gefällt ist dabei völlig unerheblich. Ich habe keinen Appetit, oder keinen mehr. Ich verabschiede mich und fahre mit meinem Elektrorollstuhl auf mein Zimmer. Dort schalte ich meinen Computer ein und mein Gehirn ab.

 
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