Identifikation

Aus: Theres Basler, Fallen kann auch Fliegen sein

Traf man früher im berufstätigen Alter mit Menschen zusammen, fiel irgend einmal die Frage nach dem Beruf. Es war interessant zu hören, wie und wo sich die Menschen durch den Beruf engagierten, was sie prägte und wie sie ihre Zeit verbrachten, das schaffte einen schönen Einstieg ins Kennenlernen. Im Alter fallen die Identifikationen mit Beruf, Stellung in der Gesellschaft und Leistung weg. Da ist die Annäherung viel direkter und geht über den Austausch der Alltagsbewältigung: Wie strukturiere ich meinen Alltag, welche Gedanken und Gefühle begleiten mich, wie gehe ich auf die Menschen und auf die Welt zu, welche Interessen verbinden uns und welchen Lebenssinn ringe ich jedem einzelnen Tag ab? Immer mehr kommen die inneren Ressourcen zum Tragen, die ich mir durch die Jahre erarbeitet und angeeignet habe und die jetzt im Alter im Idealfall zur Blüte gebracht werden können. Mich interessieren die Biografien der Menschen, ihr Denken und Fühlen und die Motive und den Weg wie sie zu den Menschen wurden, die sie heute sind.

Als ich schwanger war, gab ich meinen Beruf auf und wollte bewusst in die Anonymität der Hausfrauen treten – was übrigens zu dieser Zeit dem traditionellen Rollenbild der Frau entsprach – und mir dazumal auch – und mich der Erfahrung stellen, wer ich denn ohne die Identifikation mit dem Beruf etc. sei: Wie stelle ich mich vor, wie gehe ich um mit Fragen nach meiner beruflichen Herkunft, mit der Frage nach Leistung? Es gibt Beziehungen in meinem Leben zu Frauen, die bis jetzt Bestand haben. Sie kamen über die Kinder im gleichen Alter zu Stande. Die Kinder waren das verbindende Glied und wir unterstützten einander im Hüten, in der Verbringung von Freizeit und in der Bewältigung des Alltags und waren aktiv im Errichten von Infrastrukturen, die unseren Bedürfnissen als Eltern dienten. Ich suchte und genoss aber auch sehr die Gesellschaft von Frauen, die ein anderes als das konventionelle Familienmodell lebten. Es waren meistens viel gereiste, rührige und geistig offene Frauen. Ihre Erfahrungen bereicherten meine Weltvorstellungen. Im Gegenzug diente ihnen meine Familie oft als «Basislager». Ich lernte mich auf verschiedene Arten kennen und hatte das Bedürfnis, mehr von mir zu ergründen und mich der Frage zu stellen: Wer bin ich? Ich interessierte mich für alles, was das Leben betraf und absolvierte verschiedene Kurse und Ausbildungen rund um die spirituelle Bewusstseinsentwicklung und ums Heilen. Vor über fünfzig Jahren war das noch etwas Exotisches, was jetzt schon fast zur Allgemeinbildung gehört. Mit dem Älterwerden der Kinder erweiterte sich auch meine freiberufliche Tätigkeit in diesem Bereich bis zum Zeitpunkt, als Pierre, geschädigt durch die Hirnblutung, Pflege und Betreuung brauchte, da gab ich sie auf, nicht jedoch mein Interesse und ständige Weiterbildung im geistig-spirituellen Bereich. Das Bedürfnis nach Heilwerdung von Körper, Geist und Seele zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Kurz zusammengefasst: «Wieder zu verbinden, was gerissen ist», könnte das Thema meines Lebens sein. Die Person – das Ego – spürt immer nur den Riss. Hinter – oder unter dem Riss verdeckt – ist der unverletzbare Teil der Seele, die Liebe ist. Sich durch die Verletzung hindurchfallen lassen bis auf den Urgrund der Liebe überwindet die Illusion der Trennung und lässt uns erfahren, dass wir gar nie aus der Einheit fallen können. Das ist Heilung und ist schlussendlich ein Gnadengeschenk. Dorthin zog und zieht es mich immer wieder. Über das Schreiben gelingt es mir, nach Innen zu horchen, den Träumen nachzuspüren und zu formulieren, was sich ausdrücken und ins Licht gehoben werden möchte. Das schenkt mir Freude und Frieden und eine gewisse Gelassenheit dem Leben gegenüber. Schon als Schülerin beschäftigte mich die Frage, wer ich wirklich bin. Ich war immer eine Suchende und je älter ich werde, desto mehr rückt das Finden ins Zentrum. Die Antwort ist so nah: Das Fallen vom Kopf ins Herz, vom Wollen zum Geschehen lassen. Vielleicht hat das etwas mit Erwachsenwerden zu tun, wenn man die Attribute der Äusserlichkeiten immer weniger braucht, um das auszudrücken und zu sein, was man ist. Die Reise ins eigene Herz ist wohl die grösste und abenteuerlichste Reise, die es gibt. Vielleicht liegt sogar der Sinn des Lebens darin. Wir kommen mit einem offenen und liebenden Herzen auf die Welt. Von der ersten Minute an – ja vielleicht vom ersten Herzschlag an als Embryo – registriert das Herz alles, was geschieht. Es wird geformt und auf die Bedingungen, in die es hineingeboren wird, vorbereitet. Es muss sich bei der Geburt durch einen engen Kanal hindurch arbeiten. Womöglich ist es für das Herz eine erste Grenzerfahrung, das einer Einweihung gleich kommt. Es wird am dunkelsten Punkt ins Licht gehoben. Eine prägende Erfahrung für das Leben auf der Welt! Diese Erfahrung wird wahrscheinlich dem des Übergangs von dieser in die jenseitige Welt sehr ähnlich sein. Dabei wissen wir nur, was wir verlassen, doch nicht, was uns erwartet. Dazu ein Traum: Ich war im Wasser und wurde von einem Sog hinunter gezogen, durch einen engen Syphon getrieben und mit einem Flutsch Wasser hinaus ins Meer gespült. Ich war eine Sturzgeburt. Meine Mutter erzählte, dass ich mit dem Fruchtwasser einfach hinausgespült worden sei.
Wir haben zwei Gehirnhälften, zwei Körperteile, zwei Arme und Beine, doch nur ein Herz. Im Herzen ist die Polarität aufgehoben. Alles fliesst zurück in die Einheit, die wir Liebe nennen. Es gibt nur diese Energie im Herzen. Sie lässt uns Schönheit sehen, Freude empfinden, Empathie dem Leben gegenüber hegen, Wertschätzung und Achtsamkeit leben. Im Laufe des Lebens haben Unausgewogenheiten den Zugang zum freien Herzen oft erschwert. Doch immer gelangt der Ruf des Herzens in stillen Momenten an die Oberfläche und weckt in uns die Sehnsucht, wieder dorthin zurückzukehren, wo wir heil und ganz sind: Im Herzen. Wir kamen auf die Welt, um die Dualität zu erfahren. Doch bleiben wir bewusst, dass dieseWelt vergänglich ist und keine eigene Kraft hat. Sie lebt von unseren Energien, Gedanken und Vorstellungen. Die wirkliche Seinsebene ist unsterblich - und ein solcher Funke lebt in unserem Herzen. Wir sind da, um zu werden, wer wir sind.

 
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Leben in Griechenland

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plötzlich einer von denen