Heimat und Jugendjahre

Aus: Lilian Durst-Haufgartner, Vo dr Tschifra zum Handtäschli

Ich, Theres, wurde am 8. Februar 1927 auf der «Hoflüe» als fünftes von neun Kindern geboren. Michael, Alina, Marie, Meinrad, dann ich und mein Zwillingsbruder Simon, Helene, Martha und Berti. Eigentlich wären wir dreizehn Kinder gewesen, vier starben jedoch bei der Geburt oder kurz danach. Wir wohnten zu elft in zwei Zimmern. Ich teilte mir ein Bett mit drei Schwestern.

Mein Vater arbeitete als Vorarbeiter im Tunnelbau und wurde in der ganzen Region Wallis eingesetzt.

So war er oft wochenlang unterwegs. Meine Mutter kümmerte sich um Familie, Feld und Vieh. Wir besassen ein paar Ziegen und Schafe. Zur Schule mussten wir hinunter nach Staldenried. Dies war ein langer Fussweg von gut fünf Kilometern, wir brauchten mehr als eine Stunde für einen Weg. Martha, die zweitjüngste Schwester, war seit dem zweiten Lebensjahr körperlich behindert, als Folge einer Krankheit an der Wirbelsäule. Für sie war der lange Weg zu mühsam und so trugen wir andern Martha abwechselnd auf dem Rücken den Weg zur Schule hinunter und wieder bergauf. Ansonsten kümmerte sich meistens meine jüngere Schwester Helene um Martha. Ich selbst litt bereits als kleines Mädchen unter Rachitis. Später sagte ich immer zu meinen Kindern: «S’Tschäderbei duet mir weh, ich hatte die englische Krankheit».

Über den Mittag lohnte es sich nicht, nach Hause zu gehen, wir wurden in der Schule mit einer Suppe und einem Stück Brot verpflegt. Am frühen Nachmittag begaben wir uns auf den Heimweg, um der Mutter unter die Arme zu greifen, das Vieh zu versorgen und zu melken. Den Heimweg unterbrachen wir jeweils, um aus den Stämmen der Nadelbäume das ausfliessende Harz abzukratzen. Das Harz nannte man «Pech». Wir kauten stundenlang daran. Es schmeckte nach den enthaltenen ätherischen Ölen, ein wenig wie «Bärädräck» und nach Wald. Das war unser Waldkaugummi.

Zum Spielen blieb uns kaum noch Zeit. Wir konnten nur wenige Monate im Jahr die Schule besuchen, vom Spätherbst bis anfangs Sommer. Für die restlichen Monate wurde unsere Unterstützung zu Hause benötigt, entweder mit Arbeiten im Haus, im Stall, auf den Feldern, in den Gärten oder im Wald beim Holzen. Für das Holzen waren meine drei Brüder zuständig. Wir Mädchen sammelten das «Tannenkries» – Tannennadeln. Diese verwendeten wir als Streu für die Tiere. Das Heu trugen wir auf dem Kopf in die Scheune, alles andere mit der «Tschifra», dem geflochtenen Rückentragkorb. Die Nutztiere hielten wir uns für die Milch und den Käse, sowie für das Fleisch.

Da alle Familien im Dorf damals Selbstversorger waren, nutzten wir verschiedene Landflächen gemeinsam als Pflanzgärten. Arbeit gab es da immer genug für alle, Erwachsene und Kinder. Wir waren alle zusammen wie eine grosse Familie und halfen uns gegenseitig.

Ich war kaum neun Jahre alt, als mein Vater am 28.9.1936 an Silikose (Quarzstaublunge), einer typischen Berufserkrankung der Bergleute, starb. Er war erst neununddreissig Jahre alt und meine jüngste Schwester Berti gerade mal dreizehn Monate. Sie wurde dann, zur Entlastung der Mutter, zu ihrer Taufpatin gegeben, die kinderlos war und das kleine Mädchen wie ihr eigenes aufzog. Sie wohnte jedoch in der Nähe und besuchte uns oft, so dass wir uns nicht entfremdeten.

Ich habe nicht viele Erinnerungen an meinen Vater. So wurde meine Mutter mit achtundvierzig Jahren Witwe und stand mit neun Kindern alleine da. Damals gab es noch keine Witwenfürsorge. Man musste sich irgendwie selbst durchschlagen. Der Segen Gottes, Mut, Gottvertrauen sowie Sparsamkeit halfen über die schweren Jahre hinweg.

An meine Mutter habe ich sehr schöne Erinnerungen. Sie war eine ruhige, bescheidene und liebevolle Frau. Ich habe es nie erlebt, dass sie ihre Ruhe und vor allem auch nie die Hoffnung verlor. Sie hat nie wieder geheiratet.

Hart war das Leben auf diesen abgelegenen Weilern. Meine Brüder Michael, Meinrad und Simon halfen schon früh, Geld für den Haushalt zu verdienen. Sie wurden ins Tal geschickt und arbeiteten dort als Tagelöhner. Ich vermisste vor allem meinen Zwillingsbruder Simon sehr stark. Zu ihm hatte ich mein ganzes Leben lang eine innige Beziehung.

Meine beiden älteren Schwestern Alina, Marie und ich unterstützten meine Mutter im Haus und Garten und es war vor allem meine Aufgabe, mich um das Vieh zu kümmern. Ich liebte es, bei den Tieren und draussen in der Natur zu sein. Oft sass ich in lauen und klaren Nächten vor dem Spycher und bestaunte den Sternenhimmel. Das Walliser Wappen hat nicht umsonst Sterne in seinem Wappen. Mir schien, nirgends könne der Sternenhimmel gewaltiger und prächtiger sein als hier.

Wir wuchsen heran und meine Schwestern wurden als Haushaltshilfen zu verschiedenen Familien im Tal geschickt. Mich wollte die Mutter noch als Unterstützung bei sich behalten. Eine Ausbildung für uns Kinder war unmöglich, aber das erging den meisten damals so. In der Zwischenzeit war der zweite Weltkrieg ausgebrochen.

 
Zurück
Zurück

Narrenschiff

Weiter
Weiter

Hommage an Fred