Hommage an Fred

Aus: Susanne Meier, Und dann kam alles anders

Als schwarzes Schaf der Familie nahm sich niemand die Mühe, Fred zu verstehen. Vater warf ihm vor, mit Hammer und Säge ungeschickt zu sein und zwei linke Hände zu haben. Linkshänder ist er tatsächlich, auch wenn er in der Schule das Schreiben mit der rechten Hand erlernen musste. Vater belächelte auch, wenn er sich zu Weihnachten Kinderspielzeug wünschte, für das er eigentlich zu alt war. Wir besuchten zusammen die erste Klasse der Gesamtschule. Mutter erkannte jedoch schnell, dass er ein anderes Umfeld benötigte. Sie sorgte dafür, dass er in die Sonderklasse, «Spez» genannt, versetzt wurde. Mit Ansehen konnte man hier zwar nicht punkten, es waren «die Dummen», die hier versammelt waren, aber er hatte einen gut ausgebildeten Lehrer, der seine Schüler verstand und sie zu fördern wusste. Die Schulzeit mit Lehrer Wolf hätte für Fred fatale Folgen gehabt. Nach der Schule wusste man nicht, was man mit ihm machen sollte. Vorerst schickte man ihn zum Dorfmechaniker als Hilfskraft. Es stellte sich heraus, dass er durchaus Geschick hatte auf diesem Gebiet. Bis ins Alter war er ein Bastler, der für Alltagsprobleme oft sehr kreative Lösungen fand. Aber die Anstellung beim Dorfmechaniker schien keine Dauerlösung zu sein. Und so landete er als Belader bei der Kehrichtabfuhr. Diesen Job führte er gewissenhaft bei jedem Wetter über dreissig Jahre lang aus, ohne je einen einzigen Tag wegen Krankheit zu fehlen. Da man davon ausging, dass er normal sei, aber einfach zu widerspenstig, um sich einzufügen, wurde er ins Militär geschickt und beim Hilfsdienst eingeteilt. Auch bei der örtlichen Feuerwehr machte er jahrelang mit, auch wenn er oft nicht verstanden wurde und auch dort aneckte. Seine Energie lebte er im Sport aus. Er absolvierte mehrmals den Murten-Freiburg-Lauf, fuhr Volksradrennen, machte bei vielen Volksmärschen mit. Täglich fuhr er mit dem Velo von Adetswil nach Uster zur Arbeit, und am Abend wieder zurück. Er interessierte sich für Vieles, besuchte unzählige Messen wie Olma, Bea, Luga, war an vielen Volksmusik- und Schwingfesten, fast an jedem Radrennen und über dreissig Jahre lang ein treuer Fan der ZSC Lions, der kein Heimspiel verpasste. Auf eigene Faust kaufte er sich ein Mofa und lernte es zu fahren. Es war über Jahrzehnte sein Begleiter. Er suchte sich seinen Freundeskreis im Restaurant «Alpenrösli», wo er sich mit kleinen Handreichungen nützlich machte. Man kannte und schätzte ihn dort über Jahrzehnte. Unterstützung oder Anerkennung aus der Familie erhielt er bei all seinen Vorhaben nicht. Er behielt die Rolle des schwarzen Schafes. Man war auf seine Defizite fokussiert und sah seine Ressourcen nicht. Eine seiner Ressourcen war, mit Schicksalsschlägen fertig zu werden. Als ein enger Freund von ihm, mit dem er fast jedes Wochenende verbracht hatte, von einem Tag auf den anderen an einer Hirnblutung starb, war er zwar sehr betroffen, meistere die Situation aber vorbildlich und war fähig, sich neu zu orientieren. Mit fünfzig wurde ihm die Stelle als Kehrichtbelader aus heiterem Himmel wegen Umstrukturierungen gekündigt. Nun musste er sich wieder zurechtfinden. Die Kündigung war für ihn eine grosse Kränkung. Die Firma war für ihn eine Art zweites Zuhause gewesen, für die er alles gab. Über ein Jahr war er beim RAV gemeldet, jedoch ohne eine Aussicht auf eine neue Stelle. Ich schrieb viele Bewerbungen für ihn, begleitete ihn zu jedem Termin. Nach einem Jahr erfolgloser Bemühungen erkannte auch die junge RAV Mitarbeiterin, dass etwas geschehen musste. Sie meldete ihn bei der Invalidenversicherung an. Zu unserem grossen Erstaunen traf er da auf eine völlig verständnisvolle Mitarbeiterin. Schon nach zwei Monaten erhielt er die Zusage für eine volle Invalidenrente. Dieser Schritt eröffnete ihm ganz neue Möglichkeiten. Er konnte sich jetzt in einer geschützten Werkstatt bewerben. Lange sträubte er sich dagegen, bei «diesen Behinderten» zu arbeiten. Als ich sah, dass er seine Tage weiterhin auf dem Sofa und in seinem Stammrestaurant «Alpenrösli» verbrachte und immer apathischer wurde, meldete ich mich bei Pro Infirmis und ging mit ihm zu einem Beratungstermin nach Zürich. Der junge Berater bot ihm einen Arbeitsplatz in Zürich-Stadelhofen an. Als Fred das hörte, wusste er sofort, dass er nicht täglich nach Zürich fahren wollte. Plötzlich erinnerte er sich an eine Bekannte aus dem «Alpenrösli», die in einer geschützten Werkstatt in Fehraltorf arbeitete. Und so geschah es, dass er ohne mein Zutun zu einer neuen Arbeitsstelle kam. Zum ersten Mal wurde ihm hier Wertschätzung und Verständnis entgegengebracht. Körperlich war es viel leichter als im Abfuhrwesen, was seinem alternden Körper entgegenkam. Die Katastrophe der Kündigung erwies sich als Segen für ihn. Über zehn Jahre, bis zu seiner Pensionierung, arbeitet er sehr zuverlässig in dieser Werkstatt. Hier lernte er auch Karin, seine grosse Liebe, kennen. Sie ist fünfundzwanzig Jahre jünger, körperlich eingeschränkt, aber geistig fitter als er. Karin sah keine Möglichkeit für eine Partnerschaft, hält jedoch bis heute regelmässig Kontakt zu ihm. Sie telefonieren gelegentlich, und besuchten, solange er dazu in der Lage war, alle Eishockeyspiele ihres Lieblingsclubs ZSC. Fred lässt sich von den widrigen Umständen nicht abhalten. Einen liebevolleren und grosszügigeren Mann, der nie einen Geburtstag vergisst und seiner Liebe bei jeder Gelegenheit etwas schenkt, kann sich Karin eigentlich nicht wünschen. Zusammen mit Bruder Walter wohnte er nach dem Tod der Eltern fast zwanzig Jahre lang im Elternhaus und organisierte sein Leben selbstständig. Mit 62 Jahren erlitt er einen epileptischen Anfall, welcher ihm einen Krankenhausaufenthalt und etliche Hirnabklärungen einbrachte. Es wurden Narben in seinem Gehirn entdeckt, die er möglicherweise seit seiner Geburt hatte. Ich empfand die Nachricht als grosse Erleichterung, denn nun begann ich, immer mehr sein Verhalten zu verstehen. Erst jetzt anerkannten wir, dass er uns durch sein Verhalten nicht absichtlich ärgern wollte, wie die Familie immer geglaubt hatte, sondern mit einer angeborenen Behinderung leben musste, die damals niemand erkannte. Mit dem Alter wird er zunehmend unselbstständig und abhängig. Er klammerte sich an Manfred und mich, als ob wir seine Eltern wären. Anfänglich wehrte ich mich gegen diese Rolle. Doch seit ich sie akzeptiert habe, verbringen wir gute Stunden zusammen. Es kostete mich viel, ihn in ein Altersheim zu platzieren. Und doch wusste ich, dass es richtig war. Mit meiner Krankheitsgeschichte und meiner ungewissen Zukunft wollte ich, dass er in einem sicheren Zuhause ist, wenn ich eines Tages nicht mehr für ihn sorgen kann.

 
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Heimat und Jugendjahre

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Katherine Susie Erickson