Eine Traum-Zeitreise

Aus: Regula Sidler, Glück im Unglück

Die Wochen bei Grossmama zählen zur glücklichsten Zeit meiner Kindheit. Bei ihr fühlte ich mich angenommen und geliebt. Meine Erlebnisse und Begegnungen dort haben mich geprägt, so wie mich die Erlebnisse und Begegnungen zu Hause geprägt haben. Es ist die Erfahrung von geliebt werden. Mich angenommen fühlen, wie ich bin. Neue Erfahrungen, anders als meine sonstigen Erfahrungen: Das Gefühl, nie zu genügen, anders sein zu müssen als ich bin und Härte, die kein Vertrauen aufkommen, vielmehr Ängste wachsen lässt. Ängste, mit denen ich allein zurechtkommen musste, wollte ich nicht beschimpft und gedemütigt werden. Die Zeit bei Grossmama in Lindenwyler war von besonderem Zauber für mich. Ich war damals zwischen drei und sieben, in einem Alter, in dem manche Erlebnisse besonders stark und nachhaltig wirken. Einige Zeit nach Grossmamas Tod entdeckte ich die wohltuende, wärmende Kraft der inneren Bilder von glücklichen Erinnerungen. In meinen Traumreisen wurden die Bilder und Sinneseindrücke gewiss idealisiert. Grossmamas Alltag war keineswegs leicht. Sie musste hart arbeiten, wie alle, die auf dem Bauernhof lebten. Vielleicht bedeutete ich ihr als einziges Enkelkind, das oft und über längere Zeit bei ihr weilte, gleichviel Glück, wie sie mir. Das konnte ich sie nie fragen. Sie starb, bevor ich in das Alter kam, in dem ich mir solche Gedanken machte. Im beklemmenden Alltag zu Hause bedeutete mir der Rückzug in die Zeit bei Grossmama eine rettende Insel. Wenn ich nachts von Ängsten geplagt nicht schlafen konnte, öffnete ich in Gedanken mein Grossmama-Erinnerungs-Schatzkästlein. Zuweilen verschwanden die Ängste und der Schlaf konnte mich finden.

Eine Traum-Zeitreise

Sichelmond und Sterne über mir, gleite ich in der Traumgondel durch die klare Nacht, spüre die kühle Luft um mich, fühle Leichtigkeit. Am Horizont erscheint ein rötlicher Lichtstreifen, die Sterne verblassen allmählich. Unter der Gondel sehe ich ein altes Städtchen, durchflossen von einem breiten Fluss. Die Reise führt weiter über Wälder, Felder, Wege, über Häuser und Ställe zu einem Dorf. Im frühen Morgenlicht umkreist die Gondel einen Platz mit Kirche und einem Brunnen im Schutz einer mächtigen Eiche. In der Stille höre ich das Wasser plätschern. Die Reise führt weiter zum Dorfrand, über ein Kornfeld zu einer Weggabelung mit einer alten Linde. Die Gondel schwebt eine Weile über der Linde, lässt mich ihr stattliches Blattwerk betrachten, den Duft ihrer Blüten riechen, begleitet vom morgendlichen Vogelgesang. Beim Gehöft mit einigen Häusern sinkt die Gondel und landet auf einem länglichen Platz in der Mitte des Weilers.

Ein wenig benommen steige ich aus, reibe die Augen und blicke um mich. Die Gondel ist verschwunden, kein Mensch ist zu sehen. Stille. Ich stehe vor dem Haus meiner Grosseltern. Das Haus mit den vielen Fenstern und der blumengeschmückten Treppe, die zum Eingang führt, weckt Erinnerungen. Erinnerungen an die einzigen unbeschwerten Wochen meiner Kindheit. Während ich still dastehe, schmiegt sich eine kleine, warme Hand in meine Hand. «Komm, lass uns in der Scheune vom Heu rutschen, Lena.» Tina, meine lustige Spielkameradin vom Nachbarhof, zieht mich mit sich fort zum Heustock. Welch ein Vergnügen, diese Heurutsche. Im Schuss hinuntersausen, flink die Leiter hoch, die nächste Fahrt, immerfort, unter Kreischen und Lachen. Dann klauben wir einander die Halme aus den wirren Haaren und klopfen die Kleider ab. Blinzelnd treten wir aus dem Halbdunkel der Scheune. Ich stehe allein da.

Ich spaziere zum Beeren- und Gemüsegarten und setze mich auf die Bank an der Hausmauer. Heckenrosen blühen. Erinnerungen an sonnenwarme, samtige Himbeeren, an safttriefende Pflaumen, an den grünen Duft von frisch enthülsten Erbsen, ihr helles Klacken, wenn sie in die noch fast leere Schüssel kullern. Grossmama, in ihrer dunkelblauen Schürze mit den winzigen weissen Blumen, setzt sich neben mich auf die Bank. Eine Weile sitzen wir still beisammen. «Schade, sind die Maiglöckchen schon verblüht. Ich hätte gern mit dir einen Strauss gepflückt im nahen Wald und Lieder gesungen dazu, wie früher», unterbricht Grossmama die Stille und legt ihre Hand auf meine. «Es ist Zeit, den Leuten auf dem Feld Znüni zu bringen. Komm, du kannst mitfahren, hinten auf dem Fahrrad.»

Über den Feldweg geht die holprige Fahrt. Grossmama tritt kräftig in die Pedale, ich halte mich am Gepäckträger fest. Bei den Heuern angekommen, breitet sie ein sauberes Tuch auf dem Boden aus und setzt sich daneben ins Gras. Sie nimmt den Brotlaib aus dem Korb. Mit der einen Hand hält sie das Brot unter der Brust fest und schneidet mit der anderen Hand Scheibe um Scheibe, die sie sorgfältig in eine Reihe auf das Tuch schichtet. Sie legt Speck dazu und stellt Flaschen mit Most daneben. Die Heuer essen und schätzen die Kühle im Schatten unter dem Nussbaum.

«Wenn du uns hilfst, darfst du nachher auf dem Heuwagen heimfahren.» Grossvater blinzelt mir zu, er weiss, wie viel Vergnügen ich daran habe. Um mich wirklich nützlich zu machen, bin ich noch zu klein. Übermütig springe ich über die «Schöchli» und lege mich dann müde unter den Nussbaum. Da ist Tina wieder und ein paar andere Kinder vom Hof. Grossvater hilft uns, auf den schwer beladenen Heuwagen zu steigen. Alle legen sich ins Heu. Die Pferde ziehen an, mit einem Ruck beginnt die Fahrt. Schwankend fahren wir zur Scheune. Über uns der Himmel, mit einigen dicken, weissen Wolken am Horizont, um uns das warme, duftende Heu, das die nackten Beine und Arme kitzelt.

Bin ich eingeschlafen auf der Fahrt? Wohin sind alle verschwunden?

Ich stehe im Haus, im Halbdunkel des Flurs. Es ist angenehm kühl, riecht ein wenig nach Herdfeuer und ein wenig nach Kellerfeuchte. Noch immer hängt das Wandtelefon neben der Küchentüre. Ich öffne die Türe. Es ist still. Im Herd knistert leise das Feuer unter dem Wasserschiff. Da sehe ich Grossmama. Sie knetet Teig in einer Wanne, die auf der Bank am langen Holztisch steht. Ihre Arme sind weiss vom Mehl, auf der Stirn glänzen Schweisströpfchen. Luftblasen platzen im Teig. Es riecht nach Hefe. Grossmama richtet sich auf, drückt eine Hand in den Rücken, während sie sich mit der anderen den Schweiss von der Stirn wischt. «Der Teig muss über Nacht ruhen. Morgen darfst du mir beim Backen helfen. Jetzt könntest du Kartoffeln holen im Keller, ich brauche sie fürs Abendessen». «Komm bitte mit. Ich habe Angst, allein in den Keller zu gehen.»
An Grossmamas Hand traue ich mich, über die steile Treppe in den Keller hinunterzusteigen. Über der Treppe hängt ein langes, schmales Brett, mit Seilen und Haken an der gewölbten Decke befestigt. Dort liegen, geschützt vor den Mäusen, die Brote. Heute sind es nur noch ganz wenige.

Eigentlich mag ich den Keller mit all seinen Kostbarkeiten. Auf den Regalen stehen Reihen von hohen Gläsern, gefüllt mit sterilisierten Früchten und Gemüse. Unter Gittern liegen Käse, Butter, Speck und Würste. An der Wand stehen riesige Korbflaschen, einige noch gefüllt mit Most.

Nach dem Abendessen spielen die Hofkinder Verstecken. Ich darf mitspielen. Schon lange hat keines mehr gerufen: «Zürihegel mit de lange Fingernegel». Weil ich so oft hier bin, gehöre ich fast zu ihnen.

Vor dem zu Bett gehen bekomme ich von der Grosstante einen Löffel voll Tännchenhonig. Glückseligkeit. Gemeinsam auf ihrem hohen Bett sitzend erzählt sie mir «Joggeli söll ga Birli schüttle». Sie begleitet mich ins Bett, deckt mich zu und spricht ein Schutzengelgebet. Die eben gehörten Verse noch im Ohr gleite ich in den Halbschlaf. «Da schickt de Herr de Metzger us, er söll das Chälbli stäche. Metzger wott nid Chälbli stäche, Chälbli wott nid …»
Ich füttere die Hühner, die aufgeregt um mich flattern, stehe bei den Schweinen, die von Grossmama Futter bekommen haben, sich schmatzend um den Trog drängen und einander mit dem «Schnörrli» weg stupsen. Von weit her höre ich meine Mutter rufen: «Lena, wie du wieder aussiehst, und wie du nach Stall stinkst! Du musst baden.”

Ich merke, dass ich nicht Zuhause in Zürich bin. Ich muss nicht baden, steige dafür mit Tina die Treppe hoch zum Dachboden. Er erstreckt sich über die ganze Länge des Hauses und erscheint uns riesig. Staub wirbelt auf, als wir über die knarrenden Dielen hüpfen, von einer Seite zur anderen, von Fenster zu Fenster. Allerhand altes Gerät steht herum, Kisten, zwei mächtige alte Reisekoffer und ein Schrank mit blinden Spiegeln an den Türen. Die Koffer können wir nicht öffnen, unsere kleinen Hände sind zu wenig kräftig. Eine der Schranktüren ist angelehnt, die öffnen wir ganz. Schwarze Röcke und weisse Blusen mit Rüschen hängen an der Stange. Auf dem Boden liegt eine blaue Uniformjacke, daneben ein Helm mit roten Pompons. Es gelingt uns, eine der Rüschenblusen vom Bügel zu ziehen. Tina schlüpft hinein und wird eine Prinzessin. Ich setze den Helm auf, der mir bis über die Augen rutscht. Nur wenn ich den Kopf in den Nacken lege, kann ich etwas sehen. So hüpfen wir miteinander über den Dachboden, halten atemlos an beim Fenster, entdecken dort eine Menge von schimmernden Faltern, öffnen das Fenster und lassen sie in die Freiheit fliegen.Während wir ihnen nachschauen, wie sie auf und nieder gaukelnd ihre Freiheit entdecken, ist mir, als flögen wir mit, Tina im Prinzessinnenkleid, ich, den Helm mit den Pompons unter dem Arm.

 
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doch nicht