Babička

Aus: Klara Landau, Kde domov můj? Wo ist meine Heimat?

Die Mutter meiner Mutter – meine Babička – war eine wichtige Person meiner Kindheit. Sie wohnte mit meinen Eltern und mir in unserer kleinen Wohnung in Prag, wo wir uns das Zimmer teilten. Sie war streng, aber auch eine Quelle von schönen Geschichten über die Natur und über ihre ursprüngliche Heimat Italien. Sie brachte mir bei, wie man klassische Musik geniesst, sie steckte mir Bücher zu, welche ein wenig zu gewagt waren für mein Alter, wie z.B. Madame Bovary.

Meine Babička ist im Jahr 1889 in Trento als das zehnte von elf Kindern geboren. Sie war die Einzige, welche einen tschechischen Vornamen erhielt – als ob ihre Eltern geahnt hätten, dass sie auch als einzige wieder nach Böhmen zurückkehren wurde, woher beide Eltern stammten. In Italien nannte man sie nicht Bohumila, sondern Milka, wie die Schweizer Schokolade. Ihr Vater Martin wurde in einem südwestlichen böhmischen Dorf geboren, im Haus «U Zlatníků», das von seinem Grossvater im Jahr 1706 gebaut worden war. Das Haus steht noch immer, aber diese Geschichte kommt erst später. So viel sei aber verraten: «U Zlatníků» oder übersetzt «Beim Goldschmied» wird dieses Haus noch immer genannt. Als Martin etwa 28 Jahre alt war, ein Mädchen aus dem Nachbarsdorf geheiratet hatte und auch schon die ersten Kinder zur Welt kamen, da gab es im elterlichen Haus keinen Platz mehr für die junge Familie. So beschlossen sie innerhalb von Österreich-Ungarn ins norditalienische Trento auszuwandern und dort am Hauptplatz einen Laden mit böhmischem Glas und Porzellan zu eröffnen. Mein Urgrossvater Martin kehrte dann einmal im Jahr in sein Heimatdorf zurück, um neue Ware für den Laden zu beschaffen. Die kleine Milka – meine spätere Babička – kannte noch einige tschechische Wiegenlieder, aber die Sprache ihrer Eltern beherrschte sie nicht. Man sprach Italienisch und wegen der österreichischen Obrigkeit auch Deutsch. Mit 14 Jahren wurde Milka Vollwaise und von da an von ihren älteren Geschwistern aufgezogen. Als junge Frau lernte sie Stenografie und war in einer Anwaltskanzlei angestellt – für die damalige Zeit war sie ungewöhnlich selbständig. Sie kümmerte sich um ihre beiden Nichten Achilina und Antonietta, denn deren russische Mutter hat die beiden nach dem Tod ihres Mannes Giuseppe nicht nach Russland mitgenommen. Ihr geliebter jüngerer Bruder Ettore fiel mit 22 Jahren als Soldat bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs; das war ein herber Verlust.

Kurz vor Kriegsende tauchte ein grossgewachsener Offizier der österreichischen Armee in Trento auf, ein tschechischer Patriot, der auch Deutsch sprach. Bei einem Hauskonzert lernte er meine Babička kennen und die beiden verliebten sich. An ihrem 29. Geburtstag heiratete Milka ihren gleichaltrigen Karel. Obwohl es ihr als italienischer Patriotin schwerfiel, verliess sie das sonnige Italien und folgte ihrem Mann in die gerade erst gegründete Tschechoslowakei. Die Sprache, das Land und die Sitten kannte sie nicht.

Mein Grossvater Karel stammte aus einer Metzgerfamilie im mährischen Ostrava. Er wollte nicht ins elterliche Geschäft eintreten, sein Traum war es an die Universität zu gehen. Er studierte Theologie in Prag und wurde evangelischer Pfarrer, vorerst als Armee-Seelsorger während des Krieges. Seine Familie billigte die Heirat mit einer Italienerin nicht und so blieben die familiären Beziehungen sehr kühl.

In einem kleinen Ort in der Böhmisch-Mährischen Höhe, wo Karel als Pfarrer tätig war, kam 1919 meine Mutter Bohumila zur Welt. Ein Jahr später folgte der kleine Karel und danach noch Dušánek, der im Alter von drei Wochen starb. Für meine Grossmutter muss das Leben damals sehr hart gewesen sein, aber es sollte noch schlimmer kommen, denn am 6. März 1925 nahm sich mein Grossvater das Leben und sie blieb mit den beiden Kleinkindern und ohne jegliche familiäre Unterstützung allein. Lange wussten die Kinder gar nicht, dass ihr Vater gestorben war, denn er musste immer wieder nach Prag reisen, so wurde seine Abwesenheit begründet. Es gelang meiner Grossmutter, die beiden Kinder allein gross zu ziehen. Sie lebte von der bescheidenen Witwenrente und verdiente mit Näharbeiten dazu. Bald zeigte sich, dass auch mein Onkel Karel von derselben Krankheit betroffen war, wie sein Vater. Er hatte manische Phasen, in denen er voller Energie war, die verrücktesten Dinge anstellte, umdanach in eine tiefe Depression zu verfallen. So war es die Aufgabe meiner Grossmutter und meiner Mutter auf den hochbegabten, liebenswürdigen, aber sehr labilen Sohn und Bruder aufzupassen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Karel wie alle Männer des Jahrgangs 1920 des damaligen Protektorats Böhmen und Mähren zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Sofort nach Kriegsende fuhr meine Grossmutter nach Deutschland, um ihren Sohn zu suchen. Er war zum Glück noch am Leben, wenn auch nach einem Bombenangriff schwer verletzt. Die Angst um ihn hörte damit nicht auf, denn seine Krankheit konnte damals noch nicht so erfolgreich wie heute behandelt werden. Mit 41 Jahren nahm sich Karel das Leben und hinterliess neben seiner Frau, seiner Mutter und seiner Schwester auch drei Töchter. Ich kann mich gut an Onkel Karel erinnern, der so viel grösser war als mein Vater und mich immer liebevoll auf seine Schultern nahm. Er liebte Musik, spielte wunderbar Geige und pflegte seinen kleinen Schrebergarten. Für mich als ausgesprochenes Stadtkind war es etwas Besonderes, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen.

Zurück zu meiner Babička: Auch wenn sie meist bei uns in Prag wohnte, so behielt sie ihre Einzimmerwohnung in einer kleinen Stadt, etwa eine Stunde Zugfahrt von Prag entfernt. Dort verbrachte ich viele Sommer, oft mit meiner geliebten, vier Jahre älteren Cousine Jana. Es war ein Paradies auf Erden. Manchmal war auch ihre Schwester Olga dabei, da war ich dann sehr eifersüchtig, denn ich wollte Jana für mich allein haben. Olga war ein Jahr junger als ich. Schliesslich war sie Janas Schwester und die beiden wohnten zusammen. Als Einzelkind hatte ich doch Anrecht auf eine (fast) Schwester für mich allein, wenigstens in den Sommerferien! Wir gingen täglich in den Wald, um Erdbeeren, Heidelbeeren und Pilze zu sammeln. Bei den Beeren hiess die Regel: Eine in den Mund, die nächste in die Blechbüchse. Zu Hause kochte dann Babička aus den mitgebrachten Beeren die besten Konfitüren und die ganze Wohnung duftete herrlich süss. Der Weg in den Wald führte durch Wiesen und Felder und an einem kleinen See vorbei. Eine Erinnerung ist mir geblieben: Ich gehe durch ein Feld von Zuckererbsen und bediene mich, öffne eine Erbsenschote nach der anderen und nehme die kleinen süssen Kügelchen in den Mund. Vielleicht habe ich deshalb Erbsen immer noch so gern …

Ich habe mir überlegt, warum Babička nie wieder geheiratet hat. Als sie mit 35 Jahren Witwe wurde, nahm sie im Sommer darauf die kleine Bohumila und den noch kleineren Karel für mehrere Monate nach Italien, davon hat mir meine Mutter erzählt, denn das war für sie ein grosses Abenteuer. Ein ehemaliger Verehrer von Milka habe ihr dort einen Heiratsantrag gemacht. Sie lehnte ab. Wie anders wäre alles gekommen, wenn sie damals «Ja» gesagt hätte. Ich glaube, dass es meiner Grossmutter sehr wichtig war, ihre Selbstständigkeit zu behalten. Rückblickend denke ich, dass sie eine Feministin war, ohne diesen Begriff zu kennen.

 Vielleicht hat sie mir deshalb auch Madame Bovary (etwas zu früh?) zum Lesen gegeben.

 
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Eine Traum-Zeitreise