Wehrdienst & Entlassung

Aus: Margrit Fuchs, Vor meiner Zeit

Wehrdienst

1939 hat sich mein Vater freiwillig zur Armee gemeldet.

Er war Mitte Dreissig und lebte in einer erzwungenen Ehe, die kinderlos blieb. Seine Geburtsstadt hatte er fluchtartig verlassen – eine vermeintliche Lösung grosser Schwierigkeiten.

Mit seiner Mutter verband ihn bis an das Lebensende eine Hassliebe. Sie war die starke Frau, welche ihn grossgezogen und gleichzeitig die unbarmherzige Mutter, die ihn zur Ehe gezwungen hatte.

Es war die Zeit der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Seit dem Börsencrash 1929 war das Bankenwesen in Deutschland ins Trudeln gekommen. Mein Vater war arbeitslos. Der Wehrdienst erschien ihm als geeignete Lösung seiner Schwierigkeiten: Für Nahrung und Unterkunft war gesorgt und er konnte Abstand zu seiner Frau halten. Mit allen anderen Unannehmlichkeiten liess es sich leben. Über das Leben seiner Frau kann ich nichts sagen. In Erzählungen kam sie nie vor.

Die Einsätze zu Beginn des Krieges liegen im Dunkeln. Das Ende seiner Jahre in der Wehrmacht ist gut dokumentiert.

Als Teil des Deutschen Afrika-Korps ist er 1942 als Unteroffizier bei der Schlacht um El-Alamein in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.

Meinem Wunsch, doch etwas von ‹damals› zu erzählen, ist er mit der Schilderung von Fussmärschen durch die Wüste und kalten Nächten unter sternenklarem Himmel nachgekommen.

‹Durst ist schlimmer als Heimweh›, war einer seiner Sprüche meiner Kindertage. Ich vermute, dass dieser Gedanke auf Erlebtem beruhte.

Meine Mutter hat mir nach seinem Tod erzählt, dass er nach der verlorenen Schlacht um El-Alamein zwei Tage orientierungslos in der Wüste umhergeirrt ist. Die Gefangennahme war eine Erlösung – er hat Wasser bekommen.

Irgendwann kam in seinen Erzählungen auch rationiertes Wasser vor, wenige Kellen, die den Gefangenen täglich zustanden und dem immerwährenden Gefühl, durstig zu sein.

Viele Jahre konnte ich mein abendliches Zubettgehen mit dem Wunsch, etwas trinken zu wollen, um Minuten hinauszögern. Der Satz ‹Durst ist schlimmer als Heimweh› begleitete mich zusammen mit einem Glas Wasser in den Schlaf.

Entlassung

Im Juli 1942 geriet er in El-Alamein in Kriegsgefangenschaft, im August 1943 kam er als Kriegsgefangener nach Camp Bowie, Texas, USA.

Er hat von der Arbeit auf den Feldern, dem Pflücken von Baumwolle unter sengender Sonne erzählt, hat das Lagerleben geschildert. Dem aufkommenden Lagerkoller versuchten die Gefangenen durch gegenseitiges Unterrichten zu entkommen. Wer etwas von Zahlen verstand, hat Rechnen und Mathematik unterrichtet, wer zeichnen konnte, Zeichenunterricht. ‹Gänseblümchen abzeichnen› war eine der Grundlektionen. Mehrmals hat er mir gesagt, Zeichnen lerne man nur durch immerwährendes Abzeichnen, auch von Gänseblümchen.Mein Vater hat im Camp Bildungsmöglichkeiten gesucht und gesehen. Eine Bibliothek stand zur Verfügung und es wurden Kurse zu politischer Bildung angeboten.

Die Welt versuchte sich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorzubereiten und träumte davon, in einem besiegten Deutschland eine neue Gesellschaft aufzubauen. Gefangene Deutsche wurden mit den eigenen Wertmassstäben vertraut gemacht. Die Hoffnung auf Sieg und Frieden war auch die Hoffnung auf eine neue Ordnung in Europa.

1946 wurde das Camp für deutsche Kriegsgefangene aufgelöst.

Im Auflösungsprozess durften sich die Gefangenen mit Büchern aus der Bibliothek bedienen. Mein Vater hat ‹Cassel’s New German and English Dictionary› eingepackt. Es stand bei uns zuhause, war mein erstes englisches Nachschlagewerk und hat heute einen besonderen Platz in meinem eigenen Bücherregal. Einer der beiden Stempel im Buch ist aus Camp Bowie – der andere aus Wilton Park.

Die Entlassungspapiere aus Camp Bowie enthalten ein Kurs-Zertifikat über das Amerikanische Regierungssystem, speziell für Kriegsgefangene.

Mein Vater hatte eine funktionierende Welt gesehen und wollte an der Gestaltung einer neuen besseren Welt teilhaben.

Ab Januar 1946 wurden die Kriegsgefangenen nach Europa ausgeschifft. Der Weg führte nach Deutschland. Das Land lag am Boden, war zerstört, die Städte voll mit Flüchtlingen und Obdachlosen. Die Gräueltaten der vergangenen Jahre kamen erst langsam zum Vorschein. Sie beschämten die Bevölkerung, machten sprachlos.

Auch der Weg meines Vaters führte zurück nach Europa – er ist jedoch in England ausgestiegen!

Bis September 1946 war er in Wilton Park, in einem Umerziehungslager für deutsche Kriegsgefangene. Die Entlassungspapiere weisen ihn als kaufmännischen Angestellten aus. Er wollte lernen, wollte seine Fähigkeiten zeigen und erweitern – England hat ihm die Chance geboten. Aus seinen Entlassungspapieren ist ersichtlich, dass er einst in der Wehrmacht beim Heer eingeteilt war und am 3. Oktober 1946 für die Arbeit als Buchhalter in die Englische Besatzungszone entlassen wurde.

Die Rückkehr in ein altes, neues Leben hatte begonnen.

Dieser Abschnitt wird in der Literatur über die Nachkriegszeit im Leben aller Kriegsteilnehmer als sehr schwierig beschrieben.

Was wussten die Zuhause gebliebenen über die Jahre im Krieg und in Gefangenschaft?

Was wussten die ehemaligen Soldaten von den Zuhausegebliebenen?

Die Städte in der englischen Besatzungszone waren zerstört, es gab Nichts von Nichts. Wie konnten Paare sich unter solchen Umständen wieder finden?

Not bestimmte den Alltag.

Das Haus an der Wohnadresse stand noch, mein Vater hatte eine Wohnung.

Er kam unangemeldet ‹nach Hause›, hat seine Frau in den Armen eines englischen Soldaten gefunden. ‹Von irgendetwas muss ich ja schliesslich leben› war ihre kurze Antwort auf seine Frage.

Moral ist nichts für unsichere Zeiten.

 
Zurück
Zurück

Isa

Weiter
Weiter

Das Schwierigste ist das Schreiben