Isa

Aus: Isabella Franz, Und weg damit

Ohne Ballast durchs Leben

Annabella möchte wissen: Warum brauchtest du denn dringend Geld?
Isa: Ich hatte keins, wollte aber unbedingt in die Ferien.

Ich war um die vierzig und mitten in der vierjährigen Ausbildung zur Berufsberaterin. Diese Ausbildung finanzierte ich mit meinem Gesparten, daneben konnte ich nur sechzig Prozent arbeiten. Dazu kamen die Kosten für den Unterricht im Flamenco-Tanz. Ihr merkt: Mein Verdienst reichte zum Leben, Extras lagen nicht drin. Nach zwei Jahren in der Ausbildung hatte ich einen Durchhänger. Eine Kollegin riet mir zu Ferien. Eine Weile weg sein. Einen Unterbruch machen. Die Idee leuchtete mir ein. Am liebsten wollte ich nach Argentinien, ich hatte argentinische Freunde. Auch Andalusien zog mich an, wegen des Flamencos. Aber wie zu Geld kommen? So hatte ich mir das noch nie überlegen müssen.

Ich fragte einen Arbeitskollegen, der in seinem Leben finanziell schon ziemlich untendurch musste. «Sammle deine Fünfliber. Schau dich in deiner Wohnung um, was du verkaufen könntest. Ich habe mich auch als Strichjunge durchgeschlagen, aber das ist sicher nichts für dich.» Tja, auch Fünfliber sammeln war nichts für mich.

Allerdings waren am Abend, als ich in meine Wohnung kam, meine Augen neu ausgerichtet: Was hier drin lässt sich zu Geld machen? Der 24-bändige Brockhaus von 1864? Das bisschen Schmuck? Die paar teureren, nur einmal getragenen Kleider?

Online-Marktplätze gab es damals noch nicht. Ich musste andere Möglichkeiten finden. Und tauchte dadurch in ganz neue Welten ein.

Zuerst war da das Secondhand-Kleidergeschäft. Vornehm, hochwertig. Meine Kleider wurden eher widerwillig in Kommission genommen. «Wir können‘s ja mal versuchen.» Hat nichts gebracht.

Weiter, die Bücher. Mein Lieblingsbuchhändler empfahl mir einen Antiquar. Ein Antiquariat wie im Bilderbuch: neben der Uni, alle Wände bis zur Decke mit Büchern bedeckt, Lesesessel, alte Lampen. Über meinen Brockhaus lachte er. Kein Mensch kaufe heute noch ein altes Lexikon. Tatsächlich, die oberen Regale waren voll davon. Wir kamen ins Gespräch über meine anderen Bücher. Der Antiquar zeigte sich interessiert, kam zu mir nach Hause. Er attestierte mir eine schöne Lesebibliothek (viele Taschenbücher), zog aber doch ein paar Exemplare raus, vor allem die schön gestalteten. Wir einigten uns auf dreihundert Franken. Das Geld legte er mir auf den Tisch. Die Bücher brachte ich am nächsten Tag zu ihm. Mit einem Taxi. Das er bezahlte.

Dann der Schmuck. Im Tagblatt sah ich ein kleines Inserat «kaufe Altgold und -Silber». Also packte ich alles Edelmetallige ein. Es war nicht viel. Etwas Goldschmuck, Geschenke meines langjährigen Ex-Partners. Dazu ein Goldvreneli, Taufgeschenk meines Göttis. Und das Silberbesteck, von dem mir meine Gotte Jahr für Jahr ein Stück geschenkt hatte und das nie vollständig geworden war. Mit meiner Tasche kam ich in ein grosses Zimmer. An den Wänden Vitrinen mit schönen alten Schmuckstücken. Ein ausladendes altes Pult. Hinter dem Pult ein Mann im Anzug, der Händler. Auf dem Pult eine Zeitung, aufgeschlagen bei den Edelmetallkursen, daneben eine Waage. Vor dem Tisch ein Besucherstuhl, darauf eine Frau. Neben der Tür einige einfache Stühle, von denen mir einer zum Sitzen angeboten wurde. Ich hörte der Frau zu, wie sie vom Schmuck ihrer Grossmutter erzählte, den sie bei der Wohnungsräumung gefunden hatte. Der Händler begutachtete den Schmuck Stück für Stück. Eine Kette und ein Ring wurden beiseitegelegt, für die Vitrinen. Am Schluss wurde Schmuck gegen Geld getauscht. Verabschiedung. Ich nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Bei meinem Schmuck genügte dem Händler ein kurzer Blick. Kein ausstellungswürdiges Stück dabei. Und alles nur vierzehn Karat. Soso, das hatte mir der Ex-Partner schön verschwiegen. Die Schmuckstücke wurden zu einem Häuflein in der Waage. Umrechnung des Goldgehalts gemäss aktuellem Kurs in der Zeitung. Gleiches Prozedere beim Silberbesteck. Das Goldvreneli, immerhin, hatte einen Wert für sich. Alles in allem erhielt ich vierhundert Franken.

Mehr zu verkaufen hatte ich nicht. Zusammen mit den dreihundert Franken, die ich noch auf der Bank hatte, besass ich nun stolze tausend Franken. Das hätte für Andalusien gereicht. Es kam aber anders.

Mir ging auf, dass alles, was ich weggegeben hatte, Geschenke gewesen waren. Geschenke, die mir nichts mehr bedeuteten. Die ich trotzdem jahrelang mit mir rumgeschleppt hatte, weil «man so etwas nicht fortgibt».

Und plötzlich entdeckte ich haufenweise solches Zeugs um mich. Andenken an Ereignisse, an die ich nicht mehr denken mochte. Geburtstagsgeschenke von Menschen, die ich lieber vergessen hätte. In der Küche Gewürze, die ich einmal und nie wieder gebraucht hatte. In der Truhe einen angefangen Pulli, den ich sicher nicht mehr fertig stricken würde. Noch mehr Kleider, die ich nie anzog. Und vor allem Bücher. Alle, die ich einmal gelesen hatte, standen im Regal, darunter viele belanglos.

Ich mistete aus. Was ich ein Jahr lang nicht beachtet hatte, brauchte einen verdammt guten Grund, um zu bleiben. Dinge, die eine Geschichte erzählten, bekamen einen besonderen Platz. Andere waren uneindeutig: Sagten sie mir etwas? Sie wanderten in eine Abwartekiste: Würde ich sie vermissen? Nein, nichts davon fehlte mir. Also weg damit.

Die Bücher. Die bereiteten mir Bauchweh. Ich liebte meine Wand voller Bücher. Fühlte mich gebauchpinselt, wenn mein Besuch sie bestaunte. Aber noch einmal 22 Bananenkisten Bücher zügeln? Nein, kam nicht in Frage. Und eigentlich, so ging mir auf, musste ich mich niemandem gegenüber mit Büchern beweisen. Also nochmals eine Fahrt zum Antiquar, diesmal mit zig Säcken. Er grinste, ging die Bücher durch und stellte sie in die Wühlecke.

Wahnsinn!

Meine Wohnung war so viel heller. Und ich so viel leichter. Wie bei einem Ballon: Ballast weg und hoch in die Luft.

Und der Ballon flog wirklich. Mir ging nämlich auf, dass ich nicht in eine Berufsberatung passte. Ich lachte zu laut. Doch, echt, so kann man es zusammenfassen. Ich brach die Ausbildung ab. Und verbrachte einen wunderbaren Monat in Andalusien.

Etliche Jahre später schloss ich Sozialversicherungs-Ausbildungen ab, zuerst Fachfrau, dann Expertin. Parallel dazu die Grundausbildung als Erwachsenenbildnerin. Den Flamenco-Unterricht hatte ich die ganze Zeit weiter besucht. Finanziell hielt ich mich mit verschiedenen Aushilfsjobs über Wasser. Es war eine herrliche Zeit.

Heute ist mir klar, dass fast alles Ballast sein kann. Oder werden kann, zuerst geliebt und dann belastend. Die Ausmist-Aktion hat mich gelehrt, dass ich zum grossen Teil allein entscheide, was ich mit mir rumschleppe. Sukzessiv bin ich alles Unnötige losgeworden. Ich bin in meinem Leben 26 Mal gezügelt, das hat geholfen.

Seit dieser Aktion achte ich darauf, Ballast gar nicht erst anzuhäufen. Und das gilt nicht nur für Gegenstände.

Bei Gegenständen, zum Beispiel bei Kleidern und Möbeln, ist es relativ einfach. Ich kaufe nur noch, was nötig ist. Und das muss mir dann zweihundert Prozent gefallen.

Werbemüll ist anstrengender. Kaum zu fassen, wie viel mich da überschwemmt, wenn ich mich nicht ständig wehre.

Bücher? Tja… ein gutes Buch ist für mich kein Gegenstand. Es ist ein Schatz. Meine Schatztruhe ist also ein Bücherregal. Gefällt mir ein Buch nicht, wird es zum Gegenstand und geht in den öffentlichen Bücherschrank. Ich versuche, Fehlkäufe zu vermeiden. Hocke lange in der Buchhandlung und stöbere bei einem Espresso in den Büchern. Ausleihen geht nicht, vom miefigen Gestank in den Bibliotheken wird mir schlecht.

Das Vermeiden von Ballast hat sich sogar auf mein Sprachverständnis ausgeweitet. Ich ertrage kein leeres Geschwätz mehr. Weder bei mir noch bei andern. Menschen, die mit Worthülsen um sich werfen, gehe ich möglichst aus dem Weg. Und wortschwalliges Geschreibe geht auch nicht mehr.

Wenn ich den Bogen weit spanne, gibt es auch Menschen, die Ballast für mich sind. Es ist ein Luxus der Pensionierung, diesen Ballast-Menschen ausweichen zu können.

Notabene: Mit dem Zügeln ist jetzt fertig. Seit ein paar Monaten wohne ich in meiner Traumwohnung, einem kleinen Loft. Er passt perfekt zu mir. Und die Vermieterin ist wunderbar. Unter anderem organisiert sie Spielabende. Dort habe ich Pia kennengelernt.

Zwischenspiel 1

13 Jahre sind es heute, seit sie zusammen sind.
Das wird gefeiert.
Er hat gekocht, sie den Tisch gedeckt.
Sie stossen an: auf die nächsten gemeinsamen 13 Jahre.
Nein!
Sie weiss es in diesem Moment.
Keine weiteren 13 Jahre.
Nicht einmal mehr ein Jahr.
Einen Monat später geht sie.

 
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Wehrdienst & Entlassung