Tod

Aus: Mark Balke, Strafsache

Als mein Grossvater starb, blieb ich in einem Lift stecken. Ich absolvierte zu jenem Zeitpunkt ein juristisches Volontariat bei einem Rechtsdienst. Ich benutzte dort täglich den Lift, am Morgen bei Arbeitsbeginn und über Mittag. Das war nichts Bemerkenswertes. Bis zu jenem Tag, als ich, etwas früher als sonst, aus der Mittagspause zurückkam, und der Lift plötzlich stoppte. In der Liftkabine gab es einen roten Alarmknopf. Den drückte ich zwar, aber er bewirkte nichts. Er brachte lediglich eine Glocke zum Klingeln, die niemand hörte, weil immer noch Mittagspause und ich der Erste war, der an den Arbeitsplatz zurückkehrte. Ein Mobiltelefon hatte ich damals noch nicht. Und so klingelte ich ein paar Mal mit dem roten Knopf und wartete. – Und nach einigen langen Minuten setzte sich der Lift wieder in Bewegung, wie wenn nichts gewesen wäre. Bis zum Ende des Volontariats funktionierte der Lift tadellos und ich hörte auch nie von ähnlichen Vorfällen. Am Abend des gleichen Tages erfuhr ich, dass mein Grossvater gestorben war.

Man könnte nun geneigt sein, zwischen dem Tod meines Grossvaters und dem für ein paar Minuten blockierten Lift eine Kausalität zu erkennen, zumal dies bis heute auch das absolut einzige Mal in meinem Leben gewesen ist, dass ich in einem Lift steckenblieb. Dies ist ja auch für mich ein sehr verlockender wunderschöner Gedanke: Mein Grossvater hat mir aus dem Jenseits ein «Zeichen», eine «Botschaft» geschickt! Sein Ableben hat im ganzen dies- und jenseitigen Weltengefüge zu einer Verkettung von Ereignissen geführt, die auch mein Leben und meine Seele betrafen. Die hierbei geflossene Energie war derart gross, dass sie meine Seele richtiggehend überflutete und von ihr wieder wegströmte, um sodann mit den Stromkreisen in meiner nächsten Umgebung zu interferieren, was (gezielt oder zufällig) den Lift blockierte. Ein nochmaliger postmortaler Energiefluss meines Grossvaters wenig später setzte den Lift wieder in Bewegung.

Weil die Vorstellung so schön ist, bin ich grundsätzlich gerne bereit, meinem Lifterlebnis eine übersinnliche Bedeutung zu geben. Tatsächlich würde ich mich in diesem Fall ausnahmsweise sogar mit einer unausgegorenen, nicht restlos überzeugenden Erklärung, wie dies genau funktioniert hat, begnügen!

Nicht einmal eine solche habe ich bislang aber erhalten. Und selbst wenn ich eine überzeugende Erklärung für das Phänomen an sich hätte: Es würde nichts daran ändern, dass ich bis heute, 20 Jahre später, leider immer noch nicht herausgefunden habe, was das Ganze genau sollte. Sehr gerne nehme ich eine Botschaft von meinem Grossvater aus dem Jenseits entgegen; aber was wollte er mir denn genau für mein weiteres Leben mitteilen, als er mich in der Liftkabine festsetzte? Dass mein Weg nach oben nicht immer unaufhaltsam sein werde? (Kein Jahr später wurde ich tatsächlich arbeitslos, bevor ich dann glücklicherweise eine feste Anstellung in der Strafverfolgung erhielt). Dass ich besser die Treppe benutzen und Sport treiben soll? (Mein Grossvater war zeit seines Lebens sportbegeistert und ein leidenschaftlicher Turner. Noch an seinem 80. Geburtstag verblüffte er uns alle mit einem Kopfstand.) Oder wollte er mich einfach nur: «aufziehen»? (Man beachte das raffinierte Wortspiel! Wie könnte man eine Person besser «aufziehen», als sie in einem Aufzug, sprich: beim «Aufziehen» spasseshalber aufzuhalten?)

Bei so plumpen Deutungsversuchen verliere ich die Lust, an überhaupt eine Bedeutung zu glauben. Gesetzt den Fall, mein verstorbener Grossvater wäre tatsächlich in der Lage gewesen, den Lift zu stoppen und mir eine «Botschaft» zu schicken: Wenn er also schon meinen Lift stoppen konnte (was, wie ich finde, bereits eine beachtliche Leistung ist) und mir etwas mitteilen wollte, dann hätte er doch ebenso in der Lage gewesen sein müssen, etwas anderes, eindeutiger zu Interpretierendes zu tun. Äusserst hilfreich wäre namentlich gewesen, mir zum Beispiel etwas zu schreiben. Wenn nicht gerade mit «Geisterhand» auf die Wand der Liftkabine, dann doch wenigstens, ebenfalls unter Zuhilfenahme der elektrischen Ströme, auf meinen Bildschirm am Arbeitsplatz.

So bitter diese Erkenntnis leider auch ist, die einzige logische und überzeugende Schlussfolgerung ist: Der Tod meines Grossvaters und der blockierte Lift hatten schlichtweg nichts miteinander zu tun, ausser, dass die beiden Ereignisse am gleichen Tag passierten. Dies sind übrigens auch die beiden einzigen Ereignisse jenes Tages, an die ich mich heute überhaupt noch erinnere. Wer weiss, woran ich mich gar nicht mehr erinnere, was aber vielleicht eine noch viel «klarere» oder gar überhaupt die «Botschaft» meines Grossvaters gewesen wäre, sie aber nie erkannt habe?

So schön es auch wäre: Ich verstehe bis heute nicht, weshalb denn auch eine Verbindung zwischen Dies- und Jenseits bestehen sollte. Der Tod lässt keine übersinnlichen Kräfte oder Energien frei. Der Tod ist leider erschreckend banal. Als einige Jahre vor meinem Grossvater meine Grosstante, die ich ja ebenfalls sehr gut mochte, gestorben war, passierte – nichts. Und dies, obschon ich damals doch noch ein Kind war und daher weit weniger skeptisch und weniger verkopft und somit für Übersinnliches (noch) empfänglich hätte sein müssen.

Ungefähr ein halbes Jahr nach dem Tod meines Grossvaters hatte ich während eines Volontariats bei der Staatsanwaltschaft zum ersten Mal in meinem Leben eine Leiche gesehen. Eigentlich unfassbar, dass ich hierfür 27 Jahre alt werden musste. In früheren Epochen der Menschheitsgeschichte hätte ich mit 27 wohl schon die allgemeine Lebenserwartung überschritten gehabt und wäre selber schon tot gewesen. Hätte ich nicht von Berufs wegen – nebst anderem! – mit Leichen zu tun, dann hätte ich auch heute, mit 47 Jahren (mit Ausnahme von Lindow- und Tollund-Mann, von Juanita, Ötzi und anderen «historischen» Leichen, die heute in Museen konserviert sind) immer noch nie eine gesehen. Bei uns wird scheinbar fernab von den Menschen gestorben. Mit 14 Jahren, als meine Grosstante gestorben war, hatten meine Eltern mir offeriert, sie noch einmal zu sehen. Ich hatte abgelehnt. Die Vorstellung war mir zu grausig.

 
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Das Schreiben erfüllte und beseelte mich