Husum

Aus: Katja Klingler-Gentsch: As Time Goes By

Nora kommt endlich mal weg. Sie geniesst einige Tage mit ihrem Freund Peter. Weg vom Elternhaus, weg von den Ereignissen, weg von den anstehenden, amtlichen Notwendigkeiten. Sie reisen mit der Bahn in den Norden, nach Husum, dann ans Wattenmeer. Sie mieten Fahrräder, geniessen eine erholsame Fahrt durch die Dörfer, dem Meer entlang. Grosszügige Fahrwege, keine Berge, alles ist eben. Mit einem Guide stapfen sie bei Ebbe ins offene Meer hinaus. Erst ist es sehr rutschig, dann flutscht Schlick zwischen ihre Zehen. Es ist schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Ja nicht hinfallen, denkt Nora, mit den Zehen versucht sie, sich im Schlick festzukrallen. Würmer und Muscheln hat es zuhauf. Nora verliert ihre anfängliche Vorsicht und stiefelt weit ins Meer hinaus. Manchmal muss der Freund helfen, dass sie einen Fuss aus dem Schlick rausziehen kann. Die Tage am Meer vergehen im Flug.

Zum Abschied wollen sie ihr Reisegeld verputzen. Zum Glück sind Pässe, Geld und Hausschlüssel im Safe wohl verwahrt. Peter ist ein Meister seines Fachs. Schliesslich kennt er von all seinen Reisen diese Sicherheitseinrichtung. Schnell den Code eintippen und dann nichts wie los, zu einem feinen Nachtessen. Nichts passiert! Auch das Zauberwort «Sesam öffne dich» aktiviert keine magischen Kräfte. Immer wieder starten sie erneut einen Versuch, erst mit Kraft, dann mit Gewalt, den Safe zu öffnen. Ohne Erfolg. Was tun? Schliesslich holen sie den Hotelier. Das haben wir schnell, kein Problem, meint er zuversichtlich. Nichts passiert. Der Safe bleibt zu. Jetzt probiert er es mit sämtlichen Schlüsseln, die er in seinem Büro finden konnte. Aber, oh je! Keiner passt.

Nun hat Nora eine Idee. «Gehen wir doch zurück zur Velo-Werkstatt. Ich habe dort einen Schweissapparat gesehen, vielleicht kann der Mechaniker den Safe öffnen?» Der Hotelier hat nichts dagegen. «Machen Sie, was Sie wollen», sagt er. Peter reisst mit voller Kraft den Safe aus dem Schrank. Es ist ein schwarzer Eisenkasten, bleischwer und zum Tragen sehr umständlich. Vor dem Hotel steht Noras rotes Fahrrad. Zum Glück hat es ein Körbchen auf dem Gepäckträger. Passanten gucken verwundert. Endlich kann es losgehen.

Nora stösst das Rad, Peter läuft mit, stets bereit einzugreifen, sollte das Rad zu sehr schwanken und der Safe runterfallen. Es wird kritisch, plötzlich kippt die Fuhre und der Safe knallt mit Getöse auf den Boden. Es ist Mittag. Auf der anderen Strassenseite steht ein Junge und schaut dem Treiben interessiert zu. Er fasst die Hand seiner Mutter und zeigt mit dem Finger auf den Safe. Weitere Passanten schauen neugierig, sagen aber nichts. Mühsam wuchtet Peter den Safe hoch, stellt ihn zurück in das Körbchen. Sie haben nur noch einige Meter zu bewältigen, dann sind sie bei der Werkstatt. Plötzlich ertönt Sirenengeheul. Ein Polizeiauto rast vorbei. Ist es das, was sie im Moment denken? Nein, Glück gehabt! Ohne angehalten zu werden, marschieren sie weiter.

Der Mechaniker hört sich die unglaubliche Geschichte mehrmals an. Er weigert sich, den Safe zu öffnen. Die Leute würden glauben, er hätte den Safe gestohlen. Nora gelingt es schliesslich, ihn zu überreden. Peter muss sein Handy wegpacken. Nora wollte erst, dass er die gefährliche Prozedur filmt. Der Mechaniker verschwindet vorsorglich in einem Nebenraum und nach einigen bangen Minuten bringt er den ramponierten Safe zurück, samt Pässen, Geld und Hausschlüsseln. Peter möchte den Safe in der Werkstatt lassen, diesen in die Alteisensammlung geben. Aber den beiden bleibt nicht erspart, den aufgeschweissten Safe wieder ins Körbchen zu wuchten und möglichst unauffällig zum Hotel zurückzugehen.

Mittag ist vorüber, es sind nur wenige Leute unterwegs. Niemand hält sie auf. Niemand argwöhnt, sie könnten Diebe sein. Wahrscheinlich passen sie als älteres Paar nicht in das Schema von Bonnie and Clyde. Jetzt müssen sie den Safe nur noch in ihr Zimmer stellen. Der Hotelier sieht sich den Safe an und schlägt ihnen vor, den Safe als Souvenir zurück in die Schweiz zu nehmen. Er werde den Safe eh nicht mehr brauchen und vielleicht könnte er in Verruf kommen, selber den Safe geknackt zu haben. Nora und Peter können den Safe unmöglich über die Grenze schaffen. Sie kommen überein, dass der Hotelier das Ungetüm irgendwo im Keller verschwinden lässt. Spät am Abend treffen sie sich in der Bar und stossen auf ihre Freundschaft an. Nora und Peter versprechen, im nächsten Jahr wiederzukommen. Das steht noch aus. Corona funkte dazwischen. Husum ist aber nicht vergessen, sie werden ihr Versprechen einlösen.

 
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Tod