Oja, was hast du bei den Nonnen erlebt?

aus: Ursula Küng-Zehnder, Die Oja, der Guru, das Velo

Die Nonnen stehen zur Begrüssung bereit. Zwanzig Mädchen, wir sind alle fünfzehn Jahre alt, müssen hier ein Jahr lang Französisch lernen. Bonjour, ma Sœur! Oui, ma Sœur! Naturellement, ma Sœur! Excusez moi, s’il vous plaît, ma Sœur! Auf dem Zettel steht, wie wir die Ordensschwestern anzusprechen haben. In grauschwarzen Röcken, mit einer weissen Haube auf dem Kopf, sehen sie alle gleich aus. Zu unserer Belustigung und damit wir sie unterscheiden können geben wir Ihnen Spitznamen: der Giftzwerg, der Giraff, das Fülli, der Elefant, die Schlange, der Eiszapfen.

Sile, das Bernermaitschi, und mein Tagebuch begleiten mich tagtäglich. Und ich teile jeden Kummer, jeden Traum, jede emotionale Regung mit den beiden. Ich zeichne und skizziere Gesichter. Das ist meine ganz eigene Welt, in die ich eintauche, manchmal Frieden finde und die Fluchtgedanken vergesse. Natürlich bleibt nur wenig Zeit zum Schreiben, also bin ich mit dem Tagebuch und der Taschenlampe unter der Bettdecke beschäftigt. Es klopft an meiner Box. Hab’ ich richtig gehört? Ja, da steht Sœur Elefant und befiehlt mir wütend: ça suffit maintenant. Ich leg Lampe und Buch zur Seite und versuche zu schlafen.

Satt legt sich ein graues Tuch auf mein Herz. Schreib alles auf, dann drückt es nicht so schwer!

Wie oft haben wir heute gebetet? Bei der Tagwacht, nach dem Zähneputzen, vor dem Dortoir, zweimal in der Kapelle, vor und nach dem Frühstück, vor und nach dem Unterricht... ich zähle einundzwanzig Mal Beten an einem ganz normalen Tag. Am Abend heiliger Tage haben wir das Je vous salue, Marie doppelt so oft rezitiert.

Ich esse alles, denn der Hunger wird durch Beten und Heimweh grösser! Das Essen schmeckt grauenhaft. Das tägliche Brot geben sie uns manchmal mit einem Gerberkäsli, das ist essbar. Zum Glück gibt es die Wäschesäcke von zu Hause. Obwohl Esswaren im Dortoir unter Strafe verboten sind, versteckt meine Mutter jeweils ein paar Tafeln Schoggi, Gutzi oder eine Salami unter der sauberen Wäsche. Die Wurst duftet sehr gut in frischem Zustand, aber ohne Kühlschrank riecht das ausgelaufene Fett an meinen frisch gewaschenen Kleidern eklig. Die zugeschickten Äpfel in meinem Kasten werden von Tag zu Tag schrumpfliger, bewahren mich jedoch vor dem Hungertod.

Die Schlange ist unsere Schulschwester. Man soll sich vor ihr in Acht nehmen. Sie ist eine Verräterin: alles was passiert, wird dem Eiszapfen, der Oberin, weitergesagt. Sie sieht streng, ungesund und verbittert aus. Wir sind uns einig, dass sie keineswegs motiviert ist, uns zu unterrichten. Aber Achtung, wenn sie uns eine Straftat anhängen kann, dann ist ihre Stimme zuckersüss und ihr hasserfüllter Blick gilt uns verwöhnten Malfaiteuses. Fünfzehn zittrige Mäuschen verharren unter dem Blick der Schlange, nicht wissend, wann ihr Todesbiss sie vernichtet. In Gedanken verbannen wir sie in die Mission nach Afrika zu den armen, süssen Kinderlein, für die wir in der Freizeit aus gesammelter Wolle Socken stricken müssen. Wo doch in Afrika die Menschen barfuss gehen!

Nein, gut geht es uns hier nicht. Wir überleben und richten uns nach der Hausordnung. Wenn wir bestraft werden, ziehen wir den Kopf ein und weinen einsam in unsere Kissen. Die überstandenen Tage streichen wir im Kalender, zählen die vor uns liegenden endlosen Nächte.

Es gibt Mädchen, die plötzlich verschwinden, geflüchtet oder nach Hause geschickt? Termin beim Doktor oder Psychiater? Genau wissen wir es nicht. Wenn wir nachfragen, erhalten wir keine Antwort.

Jacquelines Gesicht ist verweint, sie steht im Dortoir auf der Fensterbank, schaut aus dem vierten Stock auf die Strasse. Sile und ich sind gleichzeitig bei ihr, ziehen sie zu uns auf den Boden runter, halten sie ganz fest in unseren Armen. Tu das nie wieder, sprich mit uns! Jacqueline kommt nach der Sommerpause nicht mehr.

Fülli, eine ägyptische Schwester, ist ein breitgebauter, liebenswerter Mensch. Ihre dunkle Gesichtsfarbe strahlt Güte und Wohlwollen aus, wir erholen uns bei ihr. Sie ist etwas schwer von Begriff, wird deshalb ausgenützt und schikaniert, vor allem von den anderen Schwestern, was sie selbst gar nicht bemerkt. Schlimm sind für sie die Winterpromenaden auf eisigen Wegen. Sie hat Angst vor dem Ausrutschen, kennt weder Eis noch Schnee. Übergewichtig watschelt sie dann breitbeinig, mit seitlich ausgestreckten Armen wie ein Pinguin auf dem vereisten Trottoir! Wir Mädchen haken uns bei ihr ein, schieben sie durch die winterliche Strasse. Sie liebt es, lässt uns gewähren, lacht mit uns, als ob wir ihre kleinen Schwestern wären.

Ab und zu ist Fülli am Wochenende für uns zuständig. Das heisst Partytime! Wir dürfen die Röcke hochkrempeln, die Haare offen tragen und Schlager auf dem Kassettenrekorder hören. Wir tanzen, singen laut und beherzt, stöhnen mit Jane Birkin und grölen mit Serge Gainsbourg: je t’aime, moi non plus. Fülli findet es dann etwas laut, aber freut sich über die heitere Stimmung. Den Songtext hat sie wohl nicht verstanden! Hoffentlich wird sie nie bestraft für ihre Grosszügigkeit.

Fülli hat auf ihrem Kleiderschrank eine Mandoline aus ihrem Heimatland, die darf ich spielen. Und weil sie so ein Schatz ist, schenkt sie mir ihren einzigen Besitz aus der Kindheit, mit versteckten Tränen in den Augen. Ich bin gerührt, jedes Mal, wenn ich darauf klimpere, ist Fülli mit ihrer Liebe in meinen Gedanken.

Die anderen Schwestern mögen wir nicht. Wir versuchen möglichst nichts mit ihnen zu tun zu haben. Wir fürchten den Elefanten, eine vierschrötige Person. Sie überragt alle, ausser den Giraff. Der Elefant kann auf leisen Sohlen durch den dunklen Keller schleichen, um wie aus dem Nichts vor uns Mädchen aufzutauchen. Wir erschrecken dann fürchterlich und werden bestraft, weil sie gehört hat, wie wir Deutsch sprechen. Die Folge: wir bekommen unsere Briefe und die saubere Wäsche von zu Hause nicht, müssen also länger auf die lebensversüssende Schoggi- und Gutzilieferung warten. Im Wissen um den lauernden Elefant im Keller huschen wir zu zweit oder noch besser in Gruppen schweigend durch die Katakomben.

Der Giraff ist Deutschschweizerin, spricht und betet mit uns jedoch nur auf Französisch. Sie ist gross, grösser als alle andern. Hager und flachbrüstig in ihrem grauen Tuch, ist sie unterwegs wie ein Schlossgeist. Ihre Augen widerspiegeln das Entsetzen des irdischen Daseins, die hängenden Wangen sind Zeichen der Kapitulation vor dem Schöpfer, ihre schwebenden Füsse zeigen die Verachtung vor so viel Dreck auf dem Boden der Wirklichkeit. Sie hat meistens etwas zu meckern, die Welt ist für sie ein Unort. Ihre weisse Haube sitzt fast immer schief über ihrem bleichen Gesicht. Kann es sein, dass sie sich mit der Haube jeden Morgen am Himmel stösst? Wie wir Mädchen schläft sie in einer Box im Dortoir, sie sorgt für Silence. Auch für den Giraff wünschen wir uns einen himmlischeren Ort, weit weg von uns.

Die kleinste, drahtigste Schwester ist der Giftzwerg. Sie ist, anders als der Elefant ein Kellerschreck auf leisen Mäusepfoten. Sie ist ganz dünn und ausgezehrt. Neben den Wasserflecken an der modrigen Wand übersehen wir sie oft. Sie erschreckt uns im dunklen Keller mit ihrer keifenden Übellaunigkeit. Das Lachen hat sie schon lange verloren, ist ihr aus dem Gesicht gefallen, nun sind da nur noch Sorgenfalten.

Samstags ist sie für unsere Sauberkeit besorgt. Mit Frotteetüchern und Shampoo, in Bademäntel eingehüllt, treffen wir sie im Keller bei den Duschkabinen. Sie ist jetzt der Herr über das Wasser. Sie kommandiert: déshabiller! entrer! savonner! laver! fini! Wir gehorchen, ziehen uns aus vor der Kabine, legen die Kleider auf den Stuhl. Nackt trotzen wir der Kälte, treten in die Kabine. Mit dem ersten kalten Guss seifen wir uns ein und warten auf das warme Wasser. Kaum kommt das Nass, noch immer nicht körperwarm, schon dreht sie mit ihrer kleinen drahtigen Hand den Wasserhahn wieder zu. Abtrocknen und in die Kleider, wir fliehen an geheizte, gemütliche Orte, um dort die Haare zu föhnen und uns aufzuwärmen. Unser Giftzwerg scheint diese kurzen Augenblicke der Sauberkeit zu geniessen. Als hätte sie die Welt von grossem Schmutz befreit, grummelt sie zufrieden in ihren Frauenbart.

Anmerkung der Autorin: Meine Enkelkinder gaben mir den Namen Oja. Der Name steht für Grossmami. Das ganze Buch ist eine Sammlung aller Kinderfragen und meiner recherchierten, in Geschichten verpackten Antwort. Das Buch ist meinen Enkelmaitli gewidmet, die mit ihren Fragen viel angestossen haben.

 
Zurück
Zurück

Meine Kindheit und die Suche [Ausschnitt]

Weiter
Weiter

Ein Traum zeigt die Lösung