Die Fotografie

Aus: Giorgio Porticciolo, Weit und doch so nah

Das Bild zeigt einen Knaben an einem heissen Sommertag im Strandbad. Keck stützt er seine Arme in die Hüften und zeigt seinen kräftigen Körper. Mit einem Lächeln im Gesicht blickt er freundlich in die Kamera. Die Szene wurde so vom Fotografen inszeniert. Eigentlich hätte sich der Bub weiter im Wasser, zusammen mit seinem Bruder, vergnügen wollen. Die Mutter liess sich vom Fotografen für ein paar Aufnahmen ihrer Buben überreden. Schliesslich gab es kaum Fotos der zwei Knaben – und hier im Strandbad stimmt auch die Umgebung dafür. Seit dem Tod ihres Mannes ist nun ein knappes halbes Jahr vergangen. Sie ist erleichtert, dass ihre Kinder am See so unbekümmert auf Abenteuerjagd gehen können. Sie scheinen den Verlust ihres Vaters zu verkraften. Oder täuscht der Eindruck? Diese Frage wird sie noch lange beschäftigen. Sie selbst ist bemüht, das Beste aus dieser Situation zu machen.

Als junge Witwe wird ihr viel Zuwendung in ihrem Umfeld zu Teil. Auch dass sie hier an diesem Ferienort zusammen mit ihren Buben zwei Wochen in der Pension Edelweiss verbringen kann, verdankt sie einem wohltätigen Frauenverein an ihrem Wohnort. Ameisenverein, nennt sich dieser. Emsig wie Ameisen bemühen sich diese Frauen um die Fürsorge von Menschen, denen dunkle Wolken die Sonnenseite des Lebens verdecken. Seit dem Tod ihres Mannes und dem Vater der Buben erfährt sie viel Fürsorge. Viele Kleiderspenden für die Kinder, Hausbesuche fürsorglicher Frauen, die sie nicht kennt und kaum versteht. Ihre Eltern haben sie und die Buben schon vor fünf Jahren bei sich aufgenommen und ihrer Tochter eine Stelle als Fabrikarbeiterin organisiert. So haben die Buben wenigstens ihre Grosseltern und gleichaltrige Spielkameraden in der Nachbarschaft.

Der Gesichtsausdruck des Knaben, seine selbstbewusste Positionierung vor der Kamera, lässt auch nicht erahnen, dass er mit seinen Lebensumständen nicht zurecht kommen könnte. Im Hintergrund der Fotografie sieht man Menschen im Wasser stehen und am Horizont deuten sich imposante Berggipfel an. Das Schwarzweiss-Bild stammt aus dem Jahre 1962 – einer Zeit des Aufbruchs und wie das Bild suggerieren könnte, der Unbeschwertheit.

Der Knabe ist im siebten Lebensjahr. Würde er zurückblicken und sein junges Leben reflektieren, müsste er wohl kurz innehalten und feststellen, dass ihm das Leben schon Einiges an Herausforderungen abverlangt hat. Doch was kümmert es das Kind? Es ist auf dem Weg, der mit ihm gegangen wird und mehr und mehr steuert es selbst seine Schritte. Der Knabe wusste nicht, was es heisst, dass seine Eltern nicht hören, gehörlos sind. Dass ihre seltsame Lautsprache nicht «normal» ist – es war einfach so, weil es so war. Und dass der Vater jahrelang im Spital lag, sich nicht bewegen konnte und man ihn alle paar Wochen besuchen musste, das war auch einfach so. Als lägen alle Väter gelähmt in einem Pflegeheim bis sie dann nach Jahren endlich sterben können.

An diesem Tag muss es heiss gewesen sein und der Schatten am Boden verrät, dass es Nachmittag ist. Später wird sein Bruder noch für den Fotografen posieren und schlussendlich beide zusammen. Diese Bilder sind Zeugnis einer glücklichen Zeit der beiden gut gebauten Knaben. Sie sind befreit von der vermeintlichen Trauer über den Tod ihres Vaters. Sie dürfen wieder unbekümmert sein – unbekümmert über all das, was da um sie herum geschieht.

Der Bub hatte seinen Vater vermisst, aber schon lange vor seinem Tod. Denn als er zwei Jahre alt war, wurde er ihm weggenommen. Durch seine Krebserkrankung am Rückenmark wurde er gelähmt und im Pflegeheim in einem Kloster abgestellt. Das wars! Die gelegentlichen, sonntäglichen Besuche zusammen mit der Mutter waren mühsam. Herumspielen im Klostergarten und der traurige Anblick in der Kammer mit den Abschiedstränen des Vaters, jedes Mal, waren traurige Erfahrungen. Der Tod dann, die grosse Erlösung. Von da an war es endlich möglich, eine Beziehung zum Vater aufzubauen. Nachts, wenn die Sterne leuchteten, suchte sich der Bub einen aus, seinen Vater. So konnte er mit ihm sprechen, er wurde auch gehört und niemand konnte ihn ihm je wieder wegnehmen. Die Mutter musste für die Fotografien nichts bezahlen der Ameisenverein übernahm die Rechnung. Er war es auch, der diesen Fotografen beauftragt hatte.

 
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