Basel – Moskau, Der Taubenmann & Die Jungen

Aus: Yvonne Schmid, TRAUM – REISE

Im Januar 2010 kam der lang ersehnte Moment: Ich stand am SBB-Schalter und kaufte ein Billett Basel–Moskau einfach.

Basel – Moskau

Als ich schliesslich am 3. März 2010 gegen Abend aufbrach, war ich beladen mit einem Koffer, einem Rucksack, einer Handtasche, einer Tasche mit Picknick und einer Tasche mit den nötigsten Dingen für zwei Nächte. Die Zugfahrt bis Moskau dauerte immerhin achtundvierzig Stunden. Auf dem Wagen stand in kyrillischer Schrift Basel-Moskau. Mein Traum wurde wahr.

Mein Zugbegleiter war ein auffallend junger, fröhlicher Mann mit blauen Augen, dessen Uniform, der lange, schwere Mantel, der Pelzkragen und die Pelzmütze, wie eine Verkleidung wirkten. Sehr genau kontrollierte er meine Fahrkarte und teilte mir auf Russisch mit, dass ich in einen anderen Wagen müsse, da bei diesem die Heizung ausgefallen sei. Auch ohne Sprachkenntnisse war mir die Botschaft klar. Ich deutete besorgt auf mein Reiseziel und wurde mit beruhigendem Nicken an meinen Platz in einem anderen Wagen mit der Aufschrift Basel-Brest gewiesen. Drei Freunde winkten mir adieu, als sich der Zug in Bewegung setzte. Peter begleitete mich vom Bahnhof SBB zum Badischen Bahnhof. Wie ich mich dort von ihm verabschiedete, kullerten ein paar Tränen. Fünf Wochen würde ich weg sein. Nach fünf Minuten Heimweh war ich nicht mehr traurig, doch auch noch nicht glücklich.

Ich war allein in einem Dreierabteil. Mein Bett war schon bereit, die beiden Liegen darüber hochgeklappt. Dem Bett gegenüber, gleich neben dem Fenster, ragte ein halbrunder Tisch aus der Wand, den ich gleich mit allerhand Dingen belegte. Ich begann, mich einzurichten, schob meine Sachen hierhin und dorthin. Wohin mit der Handtasche? Die durfte ich nie aus den Augen verlieren. Ich kontrollierte den Inhalt. Alles war da, auch zwei frankierte Briefe, die ich in Basel hätte einwerfen sollen. Aber meine Ersatzbrille suchte ich vergeblich, die hatte ich zu Hause liegen lassen. Ich war der Verzweiflung nahe beim Gedanken, dass meine einzige Brille während der nächsten fünf Wochen kaputt gehen könnte, wo ich doch mit meiner Kurzsichtigkeit so sehr darauf angewiesen bin. Ganz flau war mir im Magen, und ich hätte heulen können. Ein Mann schaute zu mir herein, er sitze im Abteil nebenan, auch allein, wir hätten Glück, wahrscheinlich kämen nicht viel mehr Leute. Er sei aus dem Elsass, benutze diesen Zug oft. Der vertraute Dialekt, die Normalität einer solchen Reise für ihn beruhigten mich. Ich stärkte mich mit einem Sandwich aus der Picknicktasche und entdeckte zu meiner grossen Freude das aufklappbare Tischblatt mit einem Waschbecken darunter.

Schon morgens um sieben sass ich am Fenster und schaute in die topfebene Landschaft. Wolkenloser Himmel, Raureif auf den Wiesen, ein schöner Tag meldete sich an. Boczów las ich auf dem Schild an einem kleinen Bahnhof. Wir waren in Polen. Leute warteten frierend auf den Zug, sie mussten vermutlich zur Arbeit. Wohlig legte ich mich nochmals ins warme Bett.

Das Dorf Toporów in Polen wird mir in Erinnerung bleiben, denn dort blieb der Zug plötzlich stehen. Von meinem Fenster aus blickte ich auf das Ortsschild. Ein Mitpassagier im Gang klärte mich auf: «Lokomotive kaputt». Wir warteten eine gute Stunde. Eine Meldung über den Lautsprecher sorgte für Hektik. Viele Passagiere stiegen aus und rannten über die Geleise. Der Elsässer erklärte mir, es gäbe einen Expresszug nach Warschau, er steige hier um. Trotz der Eile beruhigte er mich, ich solle einfach warten und im Speisewagen, der angehängt worden sei, richtig frühstücken. Verzagt folgte ich seinem Rat.

Der Speisewagen glich zwar einer kühlen Geschäftskantine, doch ein beflissener Kellner wies mir sofort einen Platz am Fenster zu. Ein sportlicher Mann mittleren Alters gesellte sich zu mir. «Michael», stellte er sich vor, in Hannover zugestiegen, auf der Fahrt nach Brest, einer Stadt in Weissrussland (Belarus), unterwegs zu seinen Geschäften und seiner zukünftigen Frau, gerade in Scheidung, zwei Mädchen, acht und elf Jahre alt, sieht sie selten, schade. Besitzt eine Bude mit neun Angestellten, Baubranche, gelernter Schlachter, dann Bürokaufmann und schliesslich Maurer. Geht gerne auf die Jagd. Ja, die Jagd ist seine Leidenschaft. Ein Wildschwein muss sofort ausgeweidet werden, damit sich das Fleisch abkühlen kann, sonst wird es schlecht. Solche Geschichten zu Rührei aus drei polnischen Eiern mit Schinken und Tomaten liessen die Sorge um die kaputte Lokomotive in den Hintergrund treten. Allerdings war mir jetzt ziemlich übel. Ich verabschiedete mich, setzte mich erschöpft in mein Abteil und bemerkte, dass der Zug wieder fuhr. Trotz grosser Verzögerung war mir nicht mehr bange. Irgendwann würden wir in Moskau ankommen.

In der Nähe von Warschau konnte ich in einen anderen Wagen wechseln, man hatte mich nicht vergessen. Zwei Männer halfen mir mit dem Gepäck. Die Zugbegleiterin im neuen Wagen empfing mich freundlich, mütterlich. Die Nachmittagsfahrt ging durch Vororte von Warschau mit schönen, gepflegten Häusern, dann wieder über Land mit verschneiten Äckern, durch Birkenwälder. Es war eine Vorahnung des Kommenden.

In Terespól, der polnischen Grenzstadt zu Belarus, stieg ein junger Mann ein. Auch er hatte ein eigenes Abteil, kam aber gleich zu einem Schwatz herüber. Der Student Jung-han, Südkoreaner, musste zwei Tage lang in dieser Kleinstadt verharren, weil er kein Transitvisum für Weissrussland beantragt hatte. Zwanzig Euro habe ihn der geforderte Stempel gekostet. Wir breiteten alle unsere Essvorräte auf der freien Sitzbank aus, assen und redeten stundenlang. Am besten schmeckte ihm der Klöpfer (Cervelat) und natürlich der Schweizer Käse.

Die zweite Nacht im Zug war ruhig, das gleichmässige Geräusch der rollenden Räder einlullend. Am nächsten Morgen fuhren wir durch tief verschneite, dünn besiedelte Landschaften. Es war wie im Film, und ich sass mittendrin. Durch die anregenden Gespräche mit Jung-han vergingen die Stunden im Nu, und plötzlich stellten wir erstaunt fest, dass wir in den Bahnhof Moskva-Belorusskaia einfuhren. Am gleichen Abend würde Jung-han mit der Transsibirischen Eisenbahn weiterreisen.

Schon von weitem sah ich das Plakat mit der Aufschrift «Godzillas». Ich war angekommen.

Irkutsk – Ulan Ude

Der Taubenmann
Als wir vom Speisewagen in unser Abteil zurückkamen, begrüsste uns ein neuer Passagier, ein schmales Bürschchen. Auf seinem dünnem Hals sass ein kleiner Kopf, der sich ruckartig mal zu Pat, mal zu mir drehte. Er redete pausenlos und konnte nicht begreifen, dass wir nichts verstanden. Russisch, betonte er und zeigte auf sich. Mehrere Zähne fehlten, gut sichtbar in seinem lachenden Mund. Er hatte getrockneten Fisch gekauft, musste ihn gut verpacken, denn er roch streng. Dies verstanden wir gut und nickten zustimmend. Bald sassen wir drei gemütlich beieinander und genossen die prächtige «Golden Pass Fahrt» dem Baikalsee entlang.

Ein eigenartiges Geräusch liess uns aufhorchen. War da nicht ein dumpfes Kratzen? Wir schauten uns fragend um. Unser Gegenüber nickte anerkennend und öffnete den Deckel des aufklappbaren Sitzes. Dort, wo ein grosser Koffer hineinpasste, trippelten etwa zwanzig gurrende Tauben hin und her. Der Besitzer strahlte vor Freude und Stolz. Er hob und senkte die Arme. Brieftauben? Ich zeichnete unbeholfen einen Vogel mit Brieflein im Schnabel auf meinen Block. Da, da! bestätigte der Taubenmann und sein Kopf ruckelte auf und ab. Mit meinen nicht vorhandenen Russischkenntnissen deutete ich seinen Redestrom und seine pantomimischen Bewegungen: Die Tauben hatten genug Luft, alles war sauber geputzt, es würde nicht stinken, die Tauben seien ganz ruhig.  Die Landschaft wurde monoton, einlullend. Wir dösten eine Weile, doch wie wir aufwachten, war der Taubenmann weg, verschwunden, als ob er samt seinen Tauben davongeflogen wäre.

 

Ulan Ude – Chabarovsk

Die Jungen
Zwei Tage und zwei Nächte waren wir von Ulan-Ude bis Chabarovsk unterwegs. Beim Halt in Tschita, in der zweiten Nacht, stiegen zwei einzelne Männer ein. Der eine legte sich sofort auf sein oberes Bett und schlief gleich ein. Der andere lärmte mit seinem vielen Gepäck, liess das Licht brennen, und schon bald kamen zwei junge Girls zu Besuch. Auf dem unteren Bett sitzend unterhielten sich die drei angeregt. Es war mitten in der Nacht. Endlich erhob sich eine der Damen und ging, vermutlich in den offenen Wagen. Die andere bezog das Bett des Mannes, zog sich aus, legte sich hin, der Mann dazu. Das Licht wurde endlich gelöscht. Schmatzende Küsschen, zischelndes Geflüster, dann ruhiger Atem, und auch ich schlief ein. Am Morgen lag das Pärchen noch lange eng umschlungen, anders geht es ja nicht, auf der Liege. Wir konnten das «Zimmer» nicht für den Tag richten, ihre Kleider lagen am Boden verstreut. Pat hatte sich auf den Gang verzogen, der Mann mir gegenüber arbeitete ungerührt am Computer. Nun lösten sich die beiden voneinander, er holte Kaffee, sie räkelte sich, die Decke fiel zu Boden und entblösste zwei wohlgeformte Beine. Sie stand auf, stand da in ihrem hauchdünnen Hemdchen und einem Mini-Tanga darunter. Mit lässiger Langsamkeit zog sie sich an, bürstete ausgiebig ihre langen blonden Haare und begann sich zu schminken. Sie massierte, schmierte, zupfte und pinselte konzentriert. Die Prozedur dauerte eine volle Stunde. Zugegeben, das Resultat war perfekt. Mit der Herablassung einer junger Schönheit schickte sie mir einen Blick zu und verliess das Abteil.

 
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an den faulig riechenden Obstkeller

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Hirnmetastasen sind weg