Ur.Sprünglich.

Aus: Sónia Fontana, Die Innenseite der Aussenseite

Da kommt immer zuerst die Frage: «Woher kommst du?». Immer als Erstes und immer wieder. Manchmal mehrmals täglich, seit 35 Jahren, und es ist so mühsam zu beantworten. Die Irrungen und Wirrungen unserer Familiengeschichte sind kompliziert und erklärungsbedürftig. Vieles steht nicht in den Geschichtsbücher, obwohl es historisch relevant wäre. Zumindest für mich. Es würde mir leichter fallen, wenn ich diese Frage einfach beantworten könnte.

Vorweggenommen: Wir kommen aus Goa in Indien, meine Vorfahren waren einmal Hindus und haben einmal anderes geheissen, bis die Portugiesen, die Kolonialisten, die Helden der Meere (Heróis do Mar), kamen und rücksichtslos das Gebiet besetzten.

Es war vor ca. 500 Jahren. Die Portugiesen haben mit Gewalt und Hilfe der Inquisition, die Goaner gezwungen, katholisch zu werden und portugiesische Namen anzunehmen. Gezwungen, auf ihre hinduistische Identität zu verzichten. Wer nicht freiwillig mitgemacht hat, wurde gefoltert und/oder umgebracht. Hindu-Tempel wurden zerstört, indigene kulturelle Eigenheiten mit allen Mitteln unterdrückt und der Katholizismus mit Inbrunst und Bosheit streng getrieben.

Einige Bekannte von mir sagen: «Aber das ist schon so lange her! Das ist gegessen und verdaut!». Und doch sind die Auswirkungen bis heute spürbar. Unser Familienname ist nicht unserer, die neue Religion, die uns aufgezwungen wurde, hat uns hart und streng verstimmt. Die Sanftheit unseres Volkes wurde als Schwäche gesehen und missbraucht. Unsere Hautfarbe ist der einzige Zeuge eines vermeintlich minderwertigen Daseins. Fast überall, bis heute. Die Scham und der Minderwertigkeitskomplex wurden weitergegeben, von einer Generation zur nächsten. Auch ich trage etwas davon.

Die Inquisition in Goa dauerte von 1570–1812.

Ich bin also dunkelhäutig, habe einen portugiesischen Name, bin streng katholisch aufgewachsen und spreche u.a. Portugiesisch. Das mit der Sprache ist vielleicht eine andere Geschichte.

Mein Urgrossvater mütterlicherseits war oft für Geschäfte in Afrika unterwegs und hat später ein Haushaltsfachgeschäft in Daressallam, Tanzania, aufgebaut. Später ist mein Grossvater aus Goa ausgewandert und hat das Geschäft in Tanzania von seinem Vater übernommen. Meine Mutter und ihre vier Schwestern sind in Tanzania geboren. Meine Mutter ist mit Englisch und etwa Swahili aufgewachsen, hat aber teilweise ihre Schule in Goa besucht, wo sie meinen Vater kennengelernt hat. In Goa mussten die konvertierten Hindus Portugiesisch lernen, aber die Muttersprache Konkani sprachen sie weiterhin unter sich. Auch den Kastenstatus behielten sie. Meine Eltern kommen aus der Kaste der Chardos (lies: Schardós, oder Kshatriyas), der Kriegerkaste.

Als mein Vater meine Mutter kennengelernt hat, war er zufällig in Goa, hatte seine Verwandten besucht. Seine Eltern, also meine Grosseltern, waren auch ausgewandert, aber nicht um Geschäfte zu machen, sondern, um im Auftrag der Portugiesen am Eisenbahnaufbau von Moçambique mit zu arbeiten. Mein Grossvater war Buchhalter. Mein Vater hatte ebenfalls eine grosse Affinität für Zahlen und hat später auch für die Eisenbahngesellschaft in Moçambique gearbeitet. Er und seine Geschwister sind in Moçambique geboren, in der Hauptstadt Lourenço Marques (heute Maputo). Moçambique war eine portugiesische Kolonie und Portugal war damals eine Diktatur, regiert von Diktator António Salazar.

Ich bin also dunkelhäutig, habe einen portugiesischen Namen und spreche u.a. Portugiesisch. Die andere Geschichte ist, dass ich mich weder mit meinem Familiennamen noch mit der Sprache mit der ich aufgewachsen bin, identifizieren kann. Die portugiesische Sprache allein bringt mich nicht näher an die Portugiesen, auch nicht an die Brasilianer. Dafür reicht die Sprache nicht. Es ist etwas tief im Innern, im Wesen, vielleicht der Menschenschlag, die Mentalität, die mit meiner nicht ganz übereinstimmt. Ich verbinde diese Sprache mit Unrecht. Aber es ist etwas Vertrautes da, weil ich die Leute verstehe, und weil ich ihre Kultur und Eigenarten kenne. Die gleiche Art Vertrautheit taucht auch auf, wenn ich z.B. Deutschschweizer im Ausland treffe (und sie wissen nicht, dass ich Schwiizerdütsch verstehe, oder).

Es muss also als erstes die Frage geklärt werden, woher ich komme. Manchmal wird gemutmasst. Aus Nordafrika, Äthiopien, Italien, aus Madagascar? In Essaouira wurde ich wie selbstverständlich auf Arabisch angesprochen. In Paris hat mich eine Frau aus dem Val Lumnezia in Rätoromanisch angesprochen. Sie sagte, dass ich aus Vrin kommen könnte, dort seien die Leute dunkel wie ich. Ein Entwicklungshelfer war überzeugt, dass ich aus Äthiopien stamme, es gäbe dort eine Region, wo die Menschen so aussähen wie ich, telquel. Auf einer Reise durch das ehemalige Jugoslawien haben einige Einheimische mich für eine Roma gehalten und sind mir mit Verachtung begegnet. Dort habe ich mich manchmal bedroht gefühlt.

Wenn ich sage, dass ich aus Moçambique komme, sagen die meisten:

«Ah, dann sprichst du sicher gut Französisch!»
«Nein, ich spreche Portugiesisch!»
«Ach was, dann bist du also Portugiesin! »
«Nein, nein, meine Wurzeln sind in Indien!»
«Ah, dann sprichst du also Indisch?!»

Eine Arbeitskollegin, die für eine Weiterbildung ein paar Tage in Indien verbrachte, schüttelte den Kopf, aufwendig nach rechts und links, wenn sie mit mir redete. Ich kam schliesslich aus Indien. Andere sagen, dass Inderinnen anders aussehen. Sie sind viel dunkler, tragen Zöpfe auf dem Kopf und ein bunten Sari um den Körper. Nicht so wie ich. Andere sagen «Du bist sicher ein Gemisch.»

Wenn das mit der Herkunft mehr oder weniger geklärt ist, kommen die weitere Fragen, wie aus der Pistole geschossen, wie ein Verhör. Mir bleibt fast keine Zeit, um angemessen zu antworten.

«Wie lange bist du schon hier? Was, schon so lange? Was, wo arbeitest du? Ja was!?»
«Hast du studiert? Wo denn??»
(Es wäre zu erwarten, dass mein Studium hierzulande nichts Wert ist, nicht wahr?). «Verstehst du Schweizerdeutsch?» Warum, wie, wo??

Meine Hautfarbe signalisiert fehlende Bildung, Armut, Unterentwicklung. Bei der Berufsberatung kommt es raus: «Wollen Sie nicht einen Kurs als Reinigungskraft machen? Da haben Sie sicher Chancen.» Stereotypen. Da bin ich schon in einer Schublade gelandet, und erst dann habe ich meine Ruhe, d.h. danach interessiert sich niemand mehr für mich. Nur das Prozedere wiederholt sich quasi täglich, wie der Toilettengang bei guter Verdauung. Ich bleibe zurück, erschöpft, kann mich schwer erholen von dieser ominöse Frage: Woher kommst du? Ur.Sprünglich?

Ich komme von hier und dort, ich komme von einem anderen Planeten. Und ich lebe und arbeite in diesem Land seit 35 Jahren.

 
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