Bücherwelt [Ausschnitt]
Aus: Hanna Meister, Spurrillen
Zu Hause war es anders. Meine Hoffnung auf eine Besserung in der Beziehung zu Lizzy war vergebens gewesen. Die Stimmung war immer noch frostig. Lizzy konnte sich nicht mit mir freuen an der guten Lehrstelle. Sie vertraute mir nicht mehr. Sie versuchte, mich streng zu konrollieren, stellte rigide Regeln auf betreffend Heimkehrzeiten. Wenn ich abends mit Danielle ausging, ins Kino oder ins Kurtheater in Baden, wollte sie ganz
genau wissen, was wir uns ansehen und wann die Vorstellung zu Ende war. Ich musste sofort nach Hause kommen. Das hatte zur Folge, dass ich sie dauernd anlügen musste. Wenn ich am Abend in Zürich bleiben wollte, um mit Marcel zusammen zu sein, erzählte ich ihr eine Geschichte von einer Unternehmung mit Danielle, (die eingeweiht war und bereit war, mich notfalls zu decken). Ich besuchte mit Marcel öfter das Africana, ein Jazzlokal in Zürich, oder ich ging mit ihm in seine Wohnung an der Hügelstrasse. Auch an Wochenenden traf ich Marcel immer wieder, was nur mit einer Lügengeschichte möglich war.
Eine Weile ging das einigermassen gut, dann passierte es: Ich wollte wieder einen Abend mit Marcel verbringen und erklärte Lizzy, dass wir mit der Buchhändlerklasse ins Schauspielhaus gehen würden. Natürlich orientierte ich mich, welches Stück gespielt wurde, was Lizzy ja wissen wollte. Diese Geschichte war nicht ganz daneben, es kam tatsächlich hie und da vor, dass wir als Klasse mit einem Lehrer etwas Kulturelles unternahmen. Vielleicht ahnte Lizzy etwas, auf jeden Fall schickte sie Jakob nach Zürich, um mich beim Schauspielhaus abzuholen. Die Tochter war aber nicht da, auch keine Schulklasse. Jakob wartete vergebens und reiste allein wieder zurück nach Wettingen. Als ich etwas später als mein Vater zu Hause zur Wohnungstüre hereintrat, kam mir eine rasende Lizzy wutentbrannt entgegen. Sie war ausser sich! Schlug mit einem harten Gegenstand – ich konnte in der Hitze des Gefechts nicht erkennen, was es war – auf mich ein und schrie und schrie: «Wo bist du gewesen? Du lügst mich also die ganze Zeit an. Ich kann nicht mehr mit dir – ich weiss nicht mehr, was ich mit dir machen muss. Du gehst abends nie mehr fort. Du bleibst in Zukunft immer zu Hause. Dir vertraue ich nie mehr!»
Wie durch einen Nebel sah ich Jakob durch die offene Türe zur guten Stube in seinem Lieblingssessel sitzen. Er hielt ein Buch vor seinen Augen, als würde er lesen. Ich glaube nicht, dass er las. Wie könnte er bei diesem Tumult, bei dieser absoluten Eskalation lesen? Er schwieg. Liess es geschehen. Mischte sich nicht ein. Sobald ich mich von der völlig aufgelösten Mutter befreien konnte, flüchtete ich in mein Zimmer und schloss mich ein. Eine Mischung aus grenzenloser Wut, Hass, Ohnmacht, Trauer überschüttete mich. Ich rollte mich in meinem Bett in Embryostellung zusammen. Weinen konnte ich nicht. Ich fror. Ich zitterte vor Kälte. Dann kam ein Gedanke: Zu dir, zu euch gehöre ich nicht mehr. Ich kündige die Beziehung zu euch.
So fasste ich einen Beschluss. Zu jemandem musste ich doch gehören. Wenigstens ein einziger Mensch musste mir ganz nahe sein und das bezeugen. Marcel. Wer sonst. Ihm fühlte ich mich am nächsten. Ich wollte ihn ganz nah erleben. Ich wollte mit ihm schlafen. Seit ich aus Coppet zurück war, waren wir uns körperlich näher gekommen, hatten begonnen, uns bei Marcel zu Hause nackt auf sein Bett zu setzen, Musik zu hören, aus dem selben Topf zu essen, uns gegenseitig Texte vorzulesen, uns zu streicheln und zu liebkosen. Dabei blieb es. Kein Geschlechtsverkehr.
Jetzt wollte ich mich mit Marcel vereinigen. Ich wollte ihn ganz in mich aufnehmen. Ganz zu ihm gehören. Niemand würde mich davon abhalten können. Auch Lizzy nicht.
Die folgenden Tage waren eisig. Die Kommunikation zu Hause war vollends abgebrochen. Morgens verliess ich mein Zimmer und ging ohne Frühstück auf den Bahnhof. Im Geschäft schrieb ich in der Mittagszeit einen Brief an Marcel mit meinem Wunsch. Darauf kam er selber in die Buchhandlung, einen Umschlag mit seiner Antwort an eine Rose geheftet. Ging gleich wieder. Die Antwort war: Ich will dich auch!
Dass sich Marcel mir gegenüber einstmal als Homosexueller vorgestellt hatte, bedeutete nichts für mich. Wir liebten uns. Die vielen Briefe, die wir während des Jahres unserer Trennung ausgetauscht hatten, verbanden uns auf einer tiefen Ebene.
Am nächsten Wochenende verliess ich am Sonntag morgen sehr früh die Wohnung. Ging einfach. Fuhr mit dem Zug nach Zürich. Fuhr mit dem Tram 13 an den Waffenplatz. Ging die Hügelstrasse entlang, bis zum Haus, wo Marcel wohnte. Wo er mich erwartete. Auch seine Mutter war da. Mittlerweile kannte sie mich. Liess uns allein. Marcel und ich schlossen uns in seinem Zimmer ein. Legten eine Platte auf. Zogen uns gegenseitig ganz langsam die Kleider aus. Umarmten uns lange stehend und nackt. Legten uns auf das Bett. Liebten uns. Wurden von Lust überschwemmt. Mein ganzer Körper bebte. Blieben lange eng umschlungen beieinander liegen. Ein Leib. So hatte ich es gewollt. Ich hatte mich von meinen Eltern, von meiner Familie losgesagt. Ich gehörte nur noch mir selbst und Marcel.
Doch ich musste wieder nach Hause. Ich hatte keine andere Wahl. Lizzy reagierte nicht mehr. Es war, als hätte sie aufgegeben. Wir schnitten uns, redeten nicht mehr miteinander, liessen uns. Auch Jakob in seinem völligen Rückzug schwieg. Solange ich in der Wohnung war, konnte ich kaum atmen. In der Buchhandlung fiel meine Erstarrung ab. Konnte leben, mich ohne Angst bewegen, fühlte mich in Ordnung. Niemand hier wusste von meiner Situation zu Hause.
Dann begann ich morgens zu erbrechen. Immer am Morgen war es mir übel. Schlimm. Ich war kaum zu gebrauchen bei der Arbeit. Die Kolleginnen sorgten sich um mich. Dachten, ich sei krank und müsse einen Arzt aufsuchen. Eine fragte mich, ob ich schwanger sei? Nein, sagte ich. Sie gab mir die Adresse eines Arztes, der sehr gut und nett sei. Ich ging hin.
Warum ich ihn aufsuche? fragte er. Erzählte ihm von meiner Morgenübelkeit. «Hatten sie Geschlechtsverkehr?» – «Ja, aber nur einmal. Davon wird man doch nicht schwanger.» Der Arzt lachte. «Haben sie eine Ahnung. Einmal genügt, wenn es der richtige Moment ist. Schauen wir uns das einmal an.» Die Untersuchung. «Mädchen, du bist schwanger. Schon ziemlich fortgeschritten.»
«Was willst du tun?» fragte der Arzt. «Erst siebzehn Jahre alt und in der Ausbildung. Was willst du mit einem Kind, Mädchen? Du bist viel zu jung. Ich kann dir helfen. Die Schwangerschaft abbrechen. Das wäre am besten. Eigentlich illegal, aber zu machen. Ich schicke dich zu einem Psychiater, den ich kenne. Er schreibt ein Gutachten, dass du aus psychischen Gründen keine Mutterschaft verkraften kannst. Deine Eltern, mindestens ein Elternteil, muss unterschreiben. Du bist noch minderjährig.»
Ich sagte: «Das geht nicht.»
«Es muss sein», sagte der Arzt. «Nun gehst du nach Hause und redest mit deinen Eltern. Dann kommst du wieder mit ihnen zusammen zu mir. So schnell wie möglich, es
eilt.»
Marcel. Ich musste mit Marcel reden. Wir trafen uns. Ich erzählte ihm, wie es ist. Nein, er möchte kein Kind. Er möchte nie ein Kind. Kinder bremsen uns nur, sagte er. Pech, meinte er. Er hätte auch nicht gedacht, dass es von einem Mal zusammensein passiert.
Ich bin verzweifelt. Eine Abtreibung möchte ich nicht. Ein Kind haben, möchte ich auch nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen. Mit Lizzy darüber reden auch nicht.
Laufe dem Seeufer entlang meinen Weg bis Zürichhorn. Möchte nicht mehr leben. Wie soll ich mich umbringen? Auch das weiss ich nicht. Sehe keine Zukunft mehr. Nur noch eine undurchdringbare Wand. Setze mich auf meinen Stein am See. Friere, obwohl es ein warmer, sonniger Morgen ist. Schaue über das Wasser, in den Himmel, an andere Ufer mit der langgezogenen Albiskette. Möchte nur eines: verlöschen, weil es nicht mehr weitergeht.
Dann taucht etwas aus meinem Inneren auf. Ein Gedanke. Die Vorstellung, dass sich Lizzy in dieser Situation mit mir solidarisch verbinden würde. Sie ist eine Frau, dachte ich. Sie will nicht, dass ein Kind abgetrieben wird. Sie wird zu mir stehen und sagen: Das schaffen wir zusammen!
So mache ich mich wieder auf den Weg zurück. Gehe bis zum Hauptbahnhof, warte auf den Zug nach Wettingen, begebe mich fast traumwandlerisch nach Hause. Noch vor dem Mittagessen öffne ich die Wohnungstüre. Lizzy ist beim Kochen. «Was machst denn du da mitten am Tag. Bist du nicht bei der Arbeit?« «Ich muss mit dir reden.»«Ist etwas passiert?» «Ja», sage ich, «ich bin schwanger.» Lizzy erstarrt. Ihre Augen weiten sich. Entsetzen im Gesicht. Schreit: «Nein» Dann noch einmal: «Nein!» Dann stürzt sie sich auf mich. Schüttelt mich. «Mit wem hast du....» «Marcel, mein Freund», presse ich hervor. «Hast du das gewollt» «Ja!» sage ich. Lizzy wendet sich von mir ab, rauft sich tatsächlich die Haare und schreit wieder «Nein, nein, nein!» Sie wendet sich wieder mir zu und fragt mit etwas ruhigerer Stimme: «So habe ich nun eine Tochter, die ein uneheliches Kind bekommt. Weisst du, was du mir antust? Was werden die Leute sagen. Du zerstörst dein und mein Leben. Das hast du nun fertig gebracht.»
Bei mir schlagartig die Klarheit, dass ich das Kind nicht haben kann. Nicht mit dieser Mutter. Alleine schaffe ich es nicht. Der Arzt hat recht. «Ich war beim Arzt,» sage ich. «Er will mir helfen. Du musst mitkommen und unterschreiben.» «Eine Abtreibung willst du? Dann bist du auch noch eine Mörderin!» Lizzy flüstert nur noch. Fällt in sich zusammen.
Wir hören Jakobs Schritte im Treppenhaus. Lizzy richtet sich wieder auf, setzt ihre strenge Miene auf, die ich so gut kenne und sagt: «Papa darf nichts davon wissen. Ihm
sagen wir es nicht. Du redest mit keinem Menschen darüber. Es muss unter uns bleiben. Und jetzt wird gegessen.»
Jakob wundert sich nicht, warum ich an einem Werktag zu Hause bin und nicht an der Arbeit. Es scheint ihn nicht zu interessieren. Er fragt sowieso nie mehr etwas. Er isst sein Mittagessen, legt sich zu seinem kurzen Mittagsschlaf wie immer auf das Sofa in der schönen Stube, bis er sich mit seinem Velo wieder auf den Weg ins Geschäft macht.
Am Nachmittag verlangt Lizzy von mir die Telefonnummer meines Arztes. Sie will ihn ohne mich aufsuchen. Zurück kam eine völlig verwirrte Lizzy. Das Gespräch mit dem Arzt sei demütigend gewesen für sie. Er habe ihr zu allem Elend noch Vorwürfe gemacht, weil sie ihre Tochter nicht über Verhütungsmittel aufgeklärt habe. Dabei wäre doch Geschlechtsverkehr gar noch nicht in Frage gekommen für mich. Vor der Ehe sei das sündhaft. Da müsse sie doch gar nicht mit mir über so etwas reden. Aber ich sei ja ein verdorbenes Mädchen. Ja, verdorben, betonte sie. Nun, sie habe unterschrieben. Obwohl sie sich mitschuldig mache an der Abtreibung. Eigentlich sei das verboten. Dieser Arzt mache es möglich. Ein komischer Arzt, meinte sie.
Noch in der selben Woche bekam ich einen Termin bei einem mürrischen Psychiater, der nach einem kurzen Gespräch mit mir und Marcel feststellte, dass er das Gutachten ausstellen würde für einen Schwangerschaftsabbruch.«Wenn der Kindsvater das Kind nicht will», fand er, «ist es bei deinem jugendlichen Alter besser so.» Die Kosten wurden von der Krankenversicherung nicht übernommen. Marcel war bereit, den Eingriff zu bezahlen.
Am vereinbarten Termin musste ich mich am Morgen sehr früh nüchtern in der Praxis meines Arztes einfinden. Ich durfte am Vorabend nichts mehr essen, nur noch trinken. Ich musste meine Schamhaare rasieren. Lizzy und ich wechselten kein Wort an diesem
Morgen. Allein machte ich mich auf den Weg. Fuhr mit dem Zug nach Zürich und suchte die Arztpraxis am Löwenplatz auf. Als der Arzt mir auf mein Klingeln hin die Türe öffnete, fragte er erstaunt, ob ich alleine käme. Was ich bestätigte. Fassungslos und wütend reagierte der Arzt. Wie ich es mir vorstelle, wieder heim zu kommen? Ich bekäme eine Vollnarkose und sei nicht fähig, nachher alleine zu reisen. Abgesehen davon wäre es auch gefährlich, wegen möglicher starken Blutungen. «Was hast du nur für eine Mutter!» meinte er. «Und wo ist dein Freund?» Der sei vor zwei Tagen beruflich nach
London gereist und noch nicht zurück. «Nun, ich lasse dich nicht im Stich, ich fahre dich mit meinem Wagen nach Hause, wenn es vorbei ist.»
Das tat der Arzt auch. Nachdem ich nach dem Eingriff von seiner Praxisschwester betreut worden war und wieder ohne Schwindel aufstehen konnte, führten mich die beiden zum Auto und ich wurde nach Wettingen transportiert. Der Arzt stützte mich im Treppenhaus beim Aufstieg in den zweiten Stock. Als ich die Türe zur Wohnung öffnete, stand Lizzy wartend im Korridor. Der Arzt schob sie grob auf die Seite, fragte nach meinem Zimmer, half mir ins Bett. Durch die Türe hörte ich, wie er Lizzy Anleitungen zur Pflege gab und sie mit dringlicher Stimme bat, ihn sofort anzurufen, wenn es starke Blutungen oder Fieber geben sollte.
Lizzy aber pflegte mich nicht. Sie konnte nicht. Sie brachte mir wortlos das Essen ans Bett, fragte nicht nach, wie es mir gehe. Es schien mir, als könne sie meinen Anblick nicht ertragen. Körperkontakt schon gar nicht.
Ich pflegte mich selbst, so gut es ging. Fand, ich sei selber schuld. Ich fühlte mich miserabel, schmutzig und verloren.
Einmal sagte Lizzy zu mir: «Du musst gar nicht mehr beten. Gott hat sich von dir abgewendet. Er will nichts mehr mit dir zu tun haben nachdem, was du getan
hast.» (Karet – hebräisch, jiddisch – Die höchste Strafe Gottes. Karet bedeutet, dass die menschliche Seele von Gott getrennt wird und nicht mehr an die Quelle des Lebens gebunden ist.) Und: «Vielleicht kannst du nie mehr schwanger werden.» Und noch das: «Du darfst mit niemandem darüber reden. Niemand darf es wissen.» (Ich erinnerte mich an die Geschichte von Philomena, der nach ihrer Vergewaltigung die Zunge herausgerissen wird, damit sie für immer schweigt.)
Nachts Träume wie diese hier: Mit einem schweren Rucksack beladen besteige ich einen
steilen Berg. Ich bin schon lange unterwegs, bin müde und hungrig. Von weitem sehe ich eine Alphütte. Sicher finde ich dort einen Unterschlupf. Eine Mahlzeit und ein Lager.
Ich gehe schneller, freue mich auf die Rast. Nun bin ich da. Öffne die Tür. Trete in den Raum. In der Mitte steht ein Tisch. Auf dem Tisch ein menschlicher Kopf. Sein Antlitz
erstarrt in einem Schrei. Daneben, schön sortiert nach Stücken, der geschlachtete Körper. Nun sehe ich Lizzy. Sie steht einige Schritte hinter dem Tisch. Sie sagt in einem
sachlichen Ton: «Nun haben wir für lange Zeit genug zu essen.» Ich schreie auf: «Mami, merkst du nicht, wie das Fleisch nach Verwesung stinkt?»
Ich erwache, aber der Gestank bleibt. Er ist da. In meinem Zimmer. Mir ist übel. Jakob wurde mitgeteilt, ich sei krank und könne ein paar Tage nicht arbeiten. Jürg war es egal. Er interessierte sich nicht mehr für die Geschicke der Famile. Seit seine beiden Brüder ausgezogen waren, wurde ich von ihm ignoriert. Er behandelte mich wie Luft.
Äusserlich war das Problem gelöst. Ich konnte meine Lehre fortsetzen. Meine Übelkeit war verschwunden und Marcel erleichtert, dass alles vorbei war. Lizzy und ich sprachen nicht mehr darüber. Unsere Beziehung war erstarrt. Wir wichen uns so gut wie möglich aus. In meinem Innern sah es anders aus. Körperlich war ich bald wieder auf dem Damm, doch tief in mir schmerzte eine Wunde, die nicht verheilen konnte. Bei der Arbeit und in der Schule konnte ich mit meinem Schmerz besser umgehen, als in der Freizeit. Mit meinen Kolleginnen sprach ich nicht über meinen Schwangerschaftsabbruch. Doch ich wusste, dass sie es wussten.
Alle im Geschäft begegneten mir liebevoll. Ich spürte viel Verständnis und Wohlwollen. Das tat mir gut und ich war sehr dankbar dafür. Dankbar, dass ich in dieser Atmosphäre meine Arbeitstage leben durfte. Dasselbe galt für die Berufsschule. Dort fühlte ich mich zugehörig und «richtig».
Den Kontakt mit Marcel hielt ich immer noch aufrecht. Doch etwas hatte sich nach dem Schwangerschaftsabbruch verändert. Er verhielt sich so, wie wenn nichts geschehen wäre. Für ihn war die Sache erledigt. Auch wir beide sprachen nicht mehr darüber. Marcel war immer noch derselbe wie vorher, doch für mich war alles anders. Für mich gab es jetzt ein Vorher und ein Nachher. Wir trafen uns immer wieder und versuchten
die Gewohnheiten unserer Beziehung fortzusetzen.
Wenn ich mit Marcel zusammen war, weinte ich fast immer. Er konnte es nicht verstehen. Das Problem war doch gelöst. Er hatte bezahlt dafür und damit seinen
Beitrag geleistet. «Vorher» konnte ich das Zusammensein mit Marcel ganz gegenwärtig geniessen, ohne je einen Gedanken an die Zukunft zu verlieren. «Vorher» hatte ich
mit Marcel in einer Parallelwelt gelebt. Das war mir jetzt nicht mehr möglich. Nun wurde mir bewusst, dass diese Beziehung in meinem Umfeld keinen Platz fände. Und
doch konnte ich mir eine Trennung von Marcel noch nicht vorstellen. Mit ihm war eine Nähe entstanden, die ich nur mit ihm erfahren konnte.
Für meinen Schmerz fand ich keine Worte. In der Literatur suchte ich verzweifelt danach und fand sie in Gedichten. Lyrik wurde für mich lebenswichtig. Ich fand Worte, Zeilen, Ausdruck in Gedichten, die das aussagten, was ich empfand. War nicht mehr allein. Ich fand Dichterinnen, die den Schmerz selber erfahren hatten und ihn benennen konnten. Vielleicht hatten sie nicht dasselbe erlebt wie ich. Vielleicht etwas ganz anderes, das sie verwundete. Aber sie kannten den Schmerz. Gedichte wurden für mich wie Medikamente. Ein wichtiger Teil meiner Person war beschädigt. Das war meine Wirklichkeit. Doch jenseits dieses Faktums war die Person, die ich sein konnte, wie ich mich fühlen konnte. Und solange ich dafür Worte und Bilder fand, war ich noch nicht verloren.
Ich entdeckte Alfonsina Storni in einem Arche Bändchen und war tief berührt und beglückt über diese Begegnung. Das Gedicht: Unnütz bin ich.. erreichte mich in der Tiefe. Ich wurde verstanden und getröstet.
Ich wollte folgen dem Kompass der Dinge,
versuchte in der Eile dieser Zeit,
zu denken, kämpfen, leben mit den andern,
nur eine kleine Schraube sein der Welt.
Doch festgebunden an die Zauberträume
rief mich der dunkle Brunnen des Instinkts,
denn also wie ein träges und gieriges
Insekt, zur Liebe hat man mich erzeugt.
Ach, unnütz bin ich, plump und grob und langsam.
Mein ausgestreckter Leib nährt sich von Sonne,
und Leben bringt für mich allein der Sommer,
wenn Wälder duften, und die träge Schlange
geringelt schläft auf ausgeglühtem Boden,
und Früchte niedersinken zu den Händen.
Ich denke, Gedichte entstehen dann, wenn nichts mehr anderes übrigbleibt. Poesie ist der letzte Schritt eines schreibenden Menschen zu anderen Menschen. Ein Funken Hoffnung. Das Gedicht ist die Zuflucht für jene, denen nichts anderes mehr übrig bleibt.
Das Gedicht steht dort, wo es schmerzt. Überall dort, wo Trennungen, Umbrüche, Verletzungen, Abgründe erfahren werden, setzt das Gedicht ein. Es findet eine Sprache für die wunden Stellen.
Lyrik, das kleinste Gefäss, das am meisten fasst. Urtümlichste, aussagekräftigste Form der Dichtung. Essenz in der Samenkapsel. (Erika Burkart)
Das Gedicht ist auch Trost. Es ist ein Ort, den ich aufsuchen kann, wie eine Wiese. Wie ein Feld. Nicht nur als Zeichen, als Symbol. Nein, als ein sehr bestimmter Ort, den das Gedicht erschafft, zu dem ich immer wieder zurückkehren kann.
Es gibt ein Gedicht von Robert Creely, einem amerikanischen Lyriker, welches genau das ausdrückt, was ich mit der Poesie erfahren habe – und immer noch erfahre: Es heisst: The Opening of the Field. Darin finden sich die Zeilen:
Often I am permitted to return to a meadow. ( Oft
darf ich zu einer Wiese wiederkehren) und fährt dann fort:
Als wäre es eine Szene, aufgemacht vom Geist,
der mir nicht gehört, sondern ein gemachter Ort ist,
der mir gehört, er liegt dem Herzen so nah,
eine ewige Weide, gefaltet in allen Gedanken,
so dass es eine Halle darin gibt,
die ein gemachter Ort ist, erschaffen vom Licht,
von dem die Schatten her, die Formen sind, fallen.
Ich abonnierte die Zeitschrift für moderne Lyrik Hortulus, immer auf der Suche nach Gedichten, die mir neue Orte eröffneten. Im Hortulus las ich zum ersten Mal ein Gedicht von Else Lasker-Schüler. Die mich hassen, die mich lieben, das mich tief bewegte. Damals war die grosse Dichterin noch ganz unbekannt. Als Buchhändlerin fand ich schnell heraus, dass sämtliche ihrer Werke vergriffen waren. Ich aber wollte alles daran setzen, mehr über Else Lasker-Schüler zu erfahren.
Bei meinen Nachforschungen, (ohne Internet selbstverständlich!) fand ich heraus, dass die Museumsgesellschaft in Zürich die Erstausgaben der Dichterin in ihrer Bibliothek hatte. So ging ich ans Limmatquai 62, klopfte an die Türe, wurde eingelassen und nach meinem Anliegen gefragt. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als die Bücher von Else Lasker-Schüler auszuleihen. Der Mann hinter seinem mächtigen Schreibpult brach in Gelächter aus. «Mein liebes Fräulein, wissen Sie nicht, dass nur Mitglieder der Museumsgesellschaft Zugang zur Bibliothek haben?» »Dann werde ich Mitglied», meinte ich. Wieder Gelächter. «Das wird eher schwierig sein, Fräulein! Nur empfohlene Bürger können der Museumsgesellschaft beitreten. Dazu kommt, dass Sie dafür so oder so zu jung sind.»
«Aber ich brauche die Bücher. Dringend!», bettelte ich. «Aus welchem Grund, Fräulein»
Wie durch eine Eingebung sagte ich: «Ich will meine Diplomarbeit über Else Lasker-Schüler schreiben. Und da alle ihre Werke vergriffen sind, bin ich auf den Bestand
in ihrer Bibliothek angewiesen.» «Nein. Geht nicht!» Plötzlich musste ich weinen. «Was soll ich denn tun?», jammerte ich.
Der Mann hinter dem Pult schaute betroffen und meinte, er hole nun einen Kollegen. Er verschwand hinter einer Türe und kurz darauf standen zwei Männer vor mir.
Noch einmal musste ich mein Anliegen vorbringen. Die beiden schauten sich an – der eine meinte, dass es dem Fräulein offenbar sehr ernst sei und der andere hatte eine Idee: Da er recht beeindruckt sei von meiner Hartnäckigkeit und von meinem Interesse an Literatur, gewähre er mir absolut ausnahmsweise die Lasker-Schüler-Schriften auszuleihen. Jedoch nur eine jeweils nach der anderen. Ich könne ein Buch mitnehmen und nach einer vereinbarten Zeit wieder zurückbringen, um das nächste abzuholen. Bis ich alle gelesen habe.
Mein Glück war gross.
So tauchte ich in die Welt des Expressionismus ein. In die verzauberte Welt der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler («verzaubert» ist eines ihrer Lieblings-
worte). Und wie sie mich verzauberte! Sie war für mich die Person, die ich gerne gewesen wäre. Eine, die ausgebrochen war aus den bürgerlichen Konventionen.
Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch
in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging elf
Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im
Morgenlande, und seitdem vegetiere ich. Und: Ich kann
nur leben von Wundern.
Sie war der Prinz Jussuf von Theben und kleidete sich mit glitzernden Pluderhosen, trug Glöcklein an den Fuss- und Armgelenken. Sie war Prinzessin Tino von Bagdad, Prinz von Theben und Abigail der Erste.
Ihre Gedichte trafen mich ins Herz.
Die Diplomarbeit über Else Lasker-Schüler habe ich geschrieben. Mit Erfolg. Ich bekam die Bestnote.