Zwei Epiloge

Aus: Beatrice Gukelberger, Mein Schutzengel trägt Rasta

Epilog

Es war kurz vor Corona-Zeiten, im Februar 2020.

Ich eilte von der Spitalgasse an der Heiliggeistkirche vorbei Richtung Bahnhof. Plötzlich rief jemand rechts von mir: «Achtung!» Wahrscheinlich blieb ich daraufhin unvermittelt stehen oder verlangsamte meinen Gang und schaute nach rechts. Im gleichen Augenblick donnerten glasdünne Eisscheiben vom Dach der Kirche und zerplatzten vor mir in tausend Stücke. Ich blickte nochmals nach rechts. In ein paar Metern Entfernung winkte mir ein junger Mann zu, lachte und verschwand in der Schweizerhoflaube. Er trug eine Rasta-Frisur.

Wie ich vor dem Bahnhof beim Fussgängerstreifen auf das Grünlicht wartete, tippte mich eine neben mir stehende Frau auf die Schulter.

«Sie bluten. Am Ohr», sagte sie.

Epilog 2

Anlässlich eines Spitalbesuchs habe ich an der Wand eines Warteraums den folgenden Spruch gelesen: «Setze keinen Punkt an die Stelle, an die Gott ein Komma gesetzt hat.» Ein Autor wurde nicht vermerkt.

Also weiterleben, solange dies Gott will. In meinem Fall: weiterleben dürfen. Dankbar sein für alles – dafür, was war, dafür, was ist, und dafür, was noch kommen wird. Ich weiss selbstverständlich nicht, was noch kommen wird, aber ich weiss, wenn ich nicht murkse, sondern die Geschehnisse annehme, wie sie kommen, dann wird es gut sein. Das ist meine Gewissheit aus einem Leben, das mir dies oft bewiesen hat.

Ich bin wirklich zutiefst dankbar und sage jeden Morgen beim Aufstehen merci. Diesen Bericht habe ich – auch – aus Dankbarkeit geschrieben und um mir einen Überblick zu verschaffen über vieles, was mir passiert ist. Diesen Überblick zu schreiben, war für mich ungemein «befriedend». Und es ist mir einmal mehr bewusst geworden, dass eines der wundersamen Merkmale meines Lebens ist, wie sich immer wieder Geschichten auftaten, die nach ihrem Ende eine gewisse Zeit im Verborgenen während Jahren, ja, Jahrzehnten sogar, «weiterlebten», um eines Tages erneut an der Oberfläche zu erscheinen, manchmal noch einmal, manchmal wiederholt.

Eine davon will ich am Schluss erzählen.

Ich war 14-jährig, als ich mit der Swissair nach dem damaligen Konstantinopel flog, wo ich auf die Eltern traf, um mit ihnen dann weiterzureisen. Neben mir sass ein junger Mann, Grieche, der recht gut deutsch sprach und, wie sich herausstellte, an der ETH Schiffsbauingenieur studierte. Er flog nach Konstantinopel, um seinen Onkel zu besuchen. Er hiess Costas. Am Zielort «hütete» er mich, bis meine Eltern schliesslich in dem chaotischen Flughafen auftauchten – die Welt war damals eben noch ohne GPS, und englisch sprach dort noch fast keiner.

In den folgenden Jahren schrieben wir uns; er kam mich auch – hin und wieder – in Bern besuchen. Nach Abschluss seines Studiums machte er mir – für mich out of the blue – einen Heiratsantrag und versprach mir, am Kap Sunion, wo es mir seinerzeit so gefallen hatte, ein Haus zu bauen. Viele Kinder sollten wir haben.

Es war das einzige Mal, dass ich zu ihm nach Zürich gefahren bin. Ich versuchte, ihm meine Absage zu erklären. Wir sassen stundenlang in einem Tea-Room und trennten uns schliesslich am Bahnhof. Dann hörten wir nichts mehr voneinander. Mehr als zwanzig Jahre später rief mich eines Tages ein Richter aus Thun (ich bin Juristin) an und teilte mir Folgendes mit. Er habe mit einem Anwaltskollegen ein Männerreisli nach Athen gemacht, und sie seien dort auf einem Platz bei einem Ouzo zusammen gesessen und hätten miteinander geplaudert. Da sei ein schwarzhaariger Mann mit Bart und ebenso schwarzen Augen an ihren Tisch getreten und habe sie gefragt, ob sie aus der Schweiz kämen. Auf ihre Bejahung hin habe er gefragt, ob aus Bern. «So ungefähr», hätten sie geantwortet. Da habe er seiner Brieftasche einen Zettel entnommen, worauf mein Name gestanden sei. Ob sie mich kennten. Ja, und dann, ob es mir gut gehe. Und schliesslich, sie sollen mich von ihm, Costas, grüssen lassen. Er wünsche mir ein gutes Leben («a good life»).

Sie liessen ihn ziehen, ohne etwas zu fragen. Den Richter interessierte vor allem, was ich mit diesem Mann zu tun hatte …

Ja, das Leben. Es ist die unglaublichste aller menschlichen Erfahrungen. Oder, wie ich auch irgendwo gelesen habe:

«Leben, du umarmendes, reiches, warmes, gesegnetes Wort!»

 
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