Ein Buch, ein richtiges Buch

Erfahrungsbericht von Gisela Bürki

Ein Buch, ein richtiges Buch. Die Seite wechseln von der Leserin zur Autorin – meine Freundin hatte es geschafft, ich war mehr als beeindruckt. In gerade einmal vier Monaten. V-i-e-r. Meine Bewunderung war gross. Sie erzählte vom Edition-Unik-Projekt. Ich notierte mir den Namen und sah mir später die Webseite an. Seriöse Aufmachung, klar und einfach.

Meine Idee stand schon fest: Ich wollte in meinem bevorstehenden Sabbatical häufig zu meiner Mutter fahren und sie zu ihrem Leben befragen, ihren Entscheidungen, ihren Glücksmomenten, ihren Ängsten, ihr nahe sein. Notizen machen und sie irgendwie «festhalten». Eigentlich wusste ich wenig von meiner Mutter. Was dachte sie? Über ihre Lebenswelt, über sich selbst und andere? Meine Mutter war in einem Alter, in dem man nie wusste, wie lange man das Zusammensein mit ihr noch geniessen konnte, wie man so sagt. Oder wie es Simone de Beauvoir in «Ein sanfter Tod» schonungslos ausdrückte: «Und letzten Endes war sie in dem Alter, wo man stirbt.»

Einen ellenlangen Fragekatalog hatte ich schon vorbereitet, hatte auch schon mehr als ein Jahr vorher begonnen, ihr behutsam, bei Kaffee und Kuchen im Wintergarten, die eine oder andere Frage zu stellen. Meine Mutter, bescheiden, war nicht gewohnt, über Entscheidungen und Gefühle zu sprechen. Sie führte ein einfaches Leben, wohnte ein Leben lang im gleichen Ort, sogar in einem einzigen Quartier. Viel Sprachlosigkeit gab es in der Familie, viel Ungesagtes, Unausgesprochenes. Würde sie mir, ihrer Tochter, ein paar ihrer Geheimnisse verraten?

Ich begann mit den Fragen bei ihrer Kindheit, ihren Eltern, ihren ersten Erinnerungen. Aber es sprudelte nicht. Oft kam die Antwort: «Ach, das weiss ich nicht mehr, das ist schon so lange her.» Oder sie bedauerte, dass sie mir nicht besser Auskunft geben könne. Ob sie sich wie eine Schülerin fühlte, die der Lehrerin Red und Antwort stehen sollte?

Die Gespräche hatten schon begonnen, bevor ich von Edition Unik erfuhr. Als ich mich ein halbes Jahr vor dem Schreibstart anmeldete und die Befragungen intensivieren wollte, erreichte mich die Meldung, dass meine Mutter gestürzt sei. Dann ging alles schnell: Zusammenbruch, Krebsdiagnose, Spitaleinweisung, Rehabilitationsversuch, Pflegeheim. Meine Mutter war schwerkrank, ein riesiger Tumor mit Metastasen. Sie kämpfte um ihr Leben, aber die Krankheit war stärker. Vier Monate nach der Diagnose starb sie.

Meine letzte Frage, die ich meiner Mutter noch stellte, war, was für eine Erinnerung sie an ihre Mutter habe. – Langes Schweigen und unvermittelter Themenwechsel. – Meinen Fragekatalog legte ich beschämt weg. Ihre Lebensgeschichte konnte ich nun nicht mehr aufschreiben, es gab keine Antworten mehr. Zu spät.

Das Buch schrieb ich trotzdem. Es wurde ein Buch zu dieser allerletzten Zeit; Lebensphase würde hier nicht passen, dazu war sie viel zu kurz. Sie war aber unglaublich intensiv. Und das Schreiben war mein Mittel, um gleichzeitig festzuhalten und loszulassen: Ich hielt das Loslassen fest. Das Unscheinbare, das scheinbar Unwichtige schrieb ich auf, hoffte, dass meine Mutter zwischen den Zeilen aufscheinen, sich mir zeigen würde.

Das Schreiben war Abschiednehmen, war Trauerarbeit. Ich schrieb wie in Trance, füllte Gedanken und Notizen in die Kacheln der Unik-App, schrieb um, löschte und ergänzte. Dann wurde mir das Schreiben in der App zu umständlich, ich transferierte alles in mein Textbearbeitungsprogramm, mit dem ich schneller und gewandter war. Beim Zurückfüllen in die Unik-Benutzungsoberfläche überarbeitete ich wieder, straffte oder präzisierte. Gab den Textentwurf nebst meinem Partner auch zwei Freunden, Schreibprofis. Ich hatte Angst, mein Innerstes zu zeigen, wusste aber, dass ich das Buch unabhängig von ihrem Urteil beenden würde. Auch als ich den Text meinem Bruder zum Lesen gab, war ich unsicher. Würde er einwenden, dass alles ganz anders sei? Dass er unsere Mutter im Geschriebenen nicht erkenne?

Menschen, die mir nahestehen, beichteten nach dem Abgabetermin, dass es Zeit gewesen sei, dass ich das Schreibprojekt beendet habe, ich sei ihnen in den siebzehn Wochen wie ein Zombie vorgekommen, abwesend, in einer anderen Welt, verstrickt in Wörtern, Wendungen und Sätzen. Für meine Umgebung war ich wohl nur schwer zu ertragen, ich selbst fühlte mich in einem konstanten Schreibflow. Zum Glück konnte ich am Ende der Schreibzeit loslassen.

[Bürki, Gisela: Das Loslassen festhalten. Zürich: Edition Unik, 2019. ISBN 978-3-033-07275-6.]

Zurück
Zurück

Orte (Tektonik)

Weiter
Weiter

Grossvater Albert