Ein Komposthaufen an Erinnerungen

Erfahrungsbericht von Regula Amacher

So wie die meisten als Neuling, Anfängerin oder Greenhorn in das Schreibprojekt der Edition Unik eingestiegen sind, genau so bin ich es auch – vor drei Jahren, im 2017.

Ich meldete mich für das Schreibprojekt bei der Unik an und hatte dabei eine recht burschikose Einstellung. Ich sagte mir, wenn es mir gefällt, mache ich weiter; wenn nicht, steige ich aus. Und so begann ich meine erste 17-wöchige Schreibrunde.

Mich beschäftigte vorgängig die Frage, ob der Weg, den die Unik anbietet, mir helfen könnte. Ich wollte herausfinden, ob die festgelegten Vorgaben in der Schreib-App für mich eine Unterstützung oder eher eine Behinderung wären. Könnte ich die Vorgaben vielleicht umgehen?

Die Tatsache ist: Ich bin chaotisch. Mein Arbeitstisch ist eine wahre Ideen-Geburtsstätte. Ich sitze wie eine Königin in meiner genialen Unordnung. Müsste mich die erste Etappe mit den gesammelten Ideen nicht eigentlich glücklich machen?

Ich habe die schlechte Angewohnheit, Einfälle, Träume und Gedanken auf verschiedenen Zetteln zu notieren, in Büchern, auf Einkaufslisten. So begegne ich dort verpassten Telefonanrufen und Briefschulden und so geht es weiter. Bis ich zur Sache kommen kann, mache ich meist ein Grümpelturnier.

Da war noch das gemütlich-ungemütliche Thema meiner Kindheit, das ich mir vorgenommen hatte. Die alten Gefühle. Dass ich bei solch einem delikaten Thema in Verwirrung kommen würde, war fast vorauszusehen. Ich zweifelte, ob ich in diesem komplexen Fall mit der Unik bis zu einem Buch kommen konnte. Ich konnte – es stellte sich der beste Fall ein.

Die grafischen Vorgaben in der App boten jeder meiner Erinnerung einen eigenen Platz an. Ich konnte sie unabhängig von den übrigen bearbeiten. Mit der Zeit gewann ich eine gute Übersicht und hangelte mich auf und ab durch die Notizen.

Es war erstaunlich, aber diese Vorgaben kamen mir entgegen. Ich glaubte lässig in die zweite Etappe zu wechseln und in der Zielgeraden weiterzuschreiben – was dann zu meinem Glück nicht eintraf. Denn die Umwege kamen eindeutig dem Inhalt zugute und forderten eine vertiefende Gedankenarbeit.

Im Übrigen hielten die kurzgehaltenen Zeitvorgaben mich wie in einem Korsett fest, das für eine aus der Fassung gefallene Frau genau richtig war. Ich fand Halt und den nötigen Druck an der nötigen Stelle, um meine Motivation aufrechtzuerhalten und zu einem befriedigenden Resultat zu kommen. Ausserdem war es beruhigend, dass ich unter dem Regime der Unik meine Vitalität und meine „subversive Seite“ nicht einbüssen musste. Ganz im Gegenteil.

Es ist meine persönliche Meinung, dass das Erinnern und Sammeln das eigentliche Geheimnis jedes kreativen Anfanges ist: Unik hat dieses Geheimnis in der App vorgesehen und uns zur Verfügung gestellt. So haben wir alle unser Material zusammengeschaufelt und angehäufelt und es ist ein schöner Komposthaufen daraus geworden. Ein zusammengesetzter gemischter Haufen, von dem wir hoffen, dass aus ihm etwas werden wird. Unser Buch. Wenn sich in einem Komposthaufen genug Wärme und Feuchtigkeit bilden, beginnen die Gärungsprozesse. Es entstehen neue Energien. Auch in unseren gesammelten Stoffen sind Energien. Es sind unsere. Sie ruhen in den Erinnerungen. Sie erwachen, wenn wir sie rufen. Das ist das Geheimnis.

Ich gehe noch einmal zurück zu meinem ersten Buch, zu meiner persönlichen Erfahrung beim Schreiben über meine Kindheit. Je älter ich wurde, desto mehr fand ich, ich hätte ein Recht, meine Kindheit zu verstehen. Meine Gefühle waren mit den Jahren zu einer gemeinen Mischung aus Liebe und Hass geworden. Was wusste ich eigentlich von meiner Kindheit? Was wusste ich von dem Kind, das ich damals gewesen war? In meiner Kindheit fühlte ich mich unverstanden und das Kind zog sich in seine Innenwelt zurück.

Etwas musste sich verändert haben und drängte mich, über das Kind zu schreiben. Aber da war noch etwas. Ich spürte immer deutlicher, dass ich mich der inneren Anforderung nicht mehr entziehen konnte, mich endlich mit meiner Kindheit auseinanderzusetzen und auszusöhnen. Es überkam mich eine tiefe Sehnsucht, das Kind aus seinem Versteck zu locken und die zurückgebundenen Seelenkräfte zu befreien. Aber wie konnte das Kind aus seinem Versteck kommen? Wie konnten seine Seelenkräfte sich erholen?

Da ich ein gutes Gedächtnis habe und mich leicht erinnere, suchte ich die Schlüsselszenen meiner Kindheit auf. Ich betrachtete sie wie durch ein Vergrösserungsglas, schrieb langsam und schilderte die Situation so genau wie möglich. Diese Szenen hatten natürlich eine tiefe Wirkung auf das Kind gehabt und ich war überrascht, wie schnell ich wieder vertraut war mit den damaligen frühen Gefühlen.

Vielleicht würde es mir gelingen, wenn ich die Sprache seiner Seele finden könnte; nur die konnte dem Kind angemessen sein. In seiner Welt war alles lebendig und sein Bewusstsein noch auf einer magischen Stufe. Da konnte ich doch mithalten, dachte ich, mit meiner Kreativität.

Um die Schlüsselszenen in einem vollständigen Sinn zu erfassen, überliess ich mich meiner Intuition. Ich ging Dingen nach, die vernunftgemäss nichts mit den Tatsachen zutun haben konnten. Doch hier passten sie und brachten eine Wahrheit ans Licht, die ich nie im Voraus hätte wissen können.

Doch ein solcher Weg braucht seine Zeit. Mit der Metapher des Komposthaufens gesprochen, braucht es Wärme und Feuchtigkeit, damit Bewegung entstehen und sich etwas ändern kann. Vielleicht müssen Tränen fliessen, muss das Herz sprechen? Hauptsache, es geht um Mitgefühl. Mitgefühl für das Kind. Mitgefühl für mich.

Um an diesen Punkt zu kommen, habe ich drei Bücher geschrieben. In ihnen gehe ich durch drei Lebensphasen, die Kindheit, den Übergang vom Kind zur Jugendlichen und dann in die spätere Erwachsenenzeit. Beim ersten Buch kommt es mir vor, als hätte mein Bewusstsein noch halb geschlafen, beim zweiten Buch hätte es geträumt und erst beim dritten und vorläufig letzten Buch bin ich so richtig aufgewacht und erwachsen geworden.

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Auf Irrwegen zum Halbbruder

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