Die rote Zora
Aus: Charlotte Häfeli, Wege und Umwege
Meine grosse Heldin, mit der ich mich vollständig identifizierte, war die rote Zora, die mit ihrer Bande der Uskoken so mutig gegen die Welt der Erwachsenen auftrat. Ihre Kraft und ihre Unabhängigkeit faszinierten mich, denn sie getraute sich sogar, den Bürgermeister ihrer Stadt der Lächerlichkeit preiszugeben. Diesen Mut hätte ich mir gewünscht – nicht den Bürgermeister zu piesacken, aber halt die Erwachsenen mitsamt all ihren Regeln und Vorschriften. Ich wollte sein wie die Zora.
Das ging so weit, dass ich in der Sekundarschule in meiner Selbstüberschätzung sogar einmal meinem Klassenlehrer widersprach, als er in meinen Augen einen Stuss erzählte. Ein derartiges Verhalten war ein absolutes Tabu, und ich handelte mir damit endlose Schwierigkeiten ein. Schliesslich handelte es sich bei einem Lehrer um eine Respektsperson par excellence.
Folgendes war geschehen: Mein Vater war als Kavallerist ein guter Reiter und er brachte mir schon früh das Reiten bei. Vor seinem Reitunfall standen in seinem Stall zwei Pferde, die mir seit Kindesbeinen vertraut waren. Alles, was mit Pferden zu tun hatte, gehörte ganz selbstverständlich zu meinem Leben. Und da erzählte uns doch dieser Lehrer in einer Geografiestunde, in der wir die Balkanländer durchnahmen, dass in der Walachei die edle Pferderasse der Wallachen gezüchtet würde. Wie bitte? Das durfte doch nicht wahr sein! Ich meldete mich zu Wort, um das sofort klarzustellen. «Das stimmt nicht, Herr R., Wallachen sind keine Pferderasse, ein Wallach ist ein kastrierter Hengst. Eines der Pferde meines Vaters ist nämlich ein Trakehner, aber eben kein Hengst, sondern ein Wallach. Deshalb kann man nicht züchten mit ihm.» Oh Gott, oh Gott … schon das Wort «kastriert» aus dem Mund einer Dreizehnjährigen – wie peinlich. Die Klasse kicherte verschämt – wir waren ja auf einer Mädchenschule –, der arme Lehrer bekam rote Ohren, und mein Schicksal war fortan besiegelt. Ab sofort wurde ich von ihm geschnitten, ich bekam Strafaufgaben für kleinste Vergehen, und im Zeugnis stand zum x-ten Mal eine schlechte Betragensnote. Er konnte mir nie verzeihen, dass ich seine Autorität in schlimmster Weise untergraben hatte.
Zwei Jahre später stand dann der Übertritt in die Kantonsschule an. Da dieser Lehrer mich immer noch ignorierte und es sehr wahrscheinlich liebend gerne gesehen hätte, wenn ich bei der Aufnahmeprüfung versagt hätte, beschloss ich, ihm das Gegenteil zu beweisen. Zwar meldete ich mich demonstrativ nie mehr im Unterricht, der Mann ignorierte mich ja sowieso, aber ich setzte mich für einmal mit grösster Ausdauer und Disziplin hinter meine Hausaufgaben und lieferte immer alles pünktlich und fehlerlos bei ihm ab, ich büffelte sogar mit Hingabe Algebra und Latein, denn ich wollte diesem Herrn – und überhaupt allen – beweisen, dass ich es schaffen würde. Niemand sollte nach der Prüfung hinter vorgehaltener Hand sagen können: «Ich ha’s jo immer gsaat!» Da ich nie die Klassenbeste war, habe ich auch nicht die beste aller Prüfungen abgelegt, aber ich war stolz auf mich selbst, weil ich sie sehr gut bestanden hatte und nun ins Gymnasium übertreten durfte.
Die rote Zora ist mir später ab und zu wieder beigestanden, wenn ich mich behaupten musste. Sie war mir in meinen Jugendjahren meistens eine gute Ratgeberin in Situationen, die nicht ganz einfach zu bewältigen waren und vor allem half sie mir immer, ehrlich zu sein und die Dinge zu benennen, die lieber ignoriert wurden, obwohl sie doch ganz offensichtlich waren. Natürlich hat mir das oft Probleme eingetragen, aber letztendlich half es mir dabei, mich selbst zu bleiben.