Der Erneuerer

Ein Auszug verwoben mit einem Erlebnisbericht von Gudrun Löffler. Sie hat in der Edition Unik mehrere Bücher geschrieben.

Meine Hoffnung auf ein sinnerfülltes Leben drohte zu erlöschen als ich 35 Jahre alt war. Privat war ich auf der Flucht vor einem lieben Menschen, der mich dazu zwingen wollte, ein Beziehungsleben wenigstens auszuprobieren. Beruflich hing ich in der Vertriebsabteilung der lokalen Zeitung fest, leistete klägliche Dienste gegen Gnadenbrot, war über- und unterfordert zugleich. Eine Chance, wie ich meine Lebensumstände verbessern könnte, war nicht zu erkennen, denn Menschen und Aufgaben, die mir anziehend erschienen, erzeugten unerträgliche Scham und Versagensangst in mir. Ich ging ihnen – wo immer sie auftauchten – fluchtartig aus dem Weg.

In diesen düsteren Tagen landete eines Morgens ein  Rundschreiben der Verlagsleitung auf meinem Tisch. Darin wurde angekündigt, dass grössere Veränderungen in allen Bereichen anstünden, damit der Verlag auch in Zukunft den Herausforderungen des Medienmarktes gewachsen sei. Für die Durchführung der notwendigen Massnahmen habe man einen Fachmann aus der Schweiz gewinnen können, der mit Erneuerungsprozessen dieser Art bestens vertraut war.

Die Mitteilung erweckte fast erloschene Geister in mir. Veränderung, Wandel, Erneuerung – genau danach lechzte mein kränkelnder Lebensmut. Der angekündigte Experte hatte meine Sympathie gewonnen, bereits Wochen bevor er sein Amt antrat. 

Es war ein sonniger Sommertag. Ich hatte wie immer mit meinen beiden Kollegen aus dem Redaktionsarchiv zu Mittag gegessen und war schon eine Weile aus der Unterhaltung ausgestiegen, um meinen Gedanken nachzuhängen. Da traf ein Blick auf meine abwesenden Augen. Ich war so in mich versunken, dass ich weder weg  noch hin zu sehen vermochte. Der Blick trat ungehindert in mich ein. Instinktiv ahnte ich, dass es der Blick des angekündigten Unternehmensberaters war. Die Sympathie für den neuen Mann war nun auch in meinem Innenleben gelandet.

Der Erneuerer, wie ich ihn bald heimlich nannte, galt als Arbeitstier. Die Leute in der Reaktion, wo er hauptsächlich tätig war,  behaupteten, er sei rund um die Uhr am Werk. Ein Journalist, mit dem ich befreundet war, erzählte mir, dass er, wo immer er auftauchte, die Arbeitsabläufe blitzschnell erfasste und auch das zwischenmenschliche Zusammenspiel in den Abteilungen treffsicher wahrzunehmen schien.  

Kurz danach konnte ich ausserdem an einer Informationsveranstaltung für den gesamten Verlag erleben, dass der Erneuerer bei seinen Vorträgen viele Metaphern und Aufforderungen zwischen den Zeilen verwendete. Was ich in stummen Selbstgesprächen ständig tat, wenn ich Ereignisse zum besseren Verständnis Revue passieren liess, tat er laut und an alle Anwesenden gerichtet.

So  demonstrierte er beispielsweise anhand der Abbildung eines renovierungsbedürftigen Hauses, warum Veränderungen im Verlag – auch wenn sie vielen  Sorge bereiteten - unumgänglich waren. Der neue Mann war mir im Geiste bereits nach wenigen Wochen zum ersten Vorbild in meinem Leben und engsten Verbündeten geworden.

Als ich erfuhr, dass «der Dauerläufer», wie die Leute in der Redaktion den Erneuerer nannten, erkrankt sei, war ich aufgewühlt und formulierte umgehend eine Genesungskarte. Sinngemäss äusserte ich in eigenem Namen und – wie ich behauptete – stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen Anerkennung für sein Engagement und – weit mehr noch – für die feinfühlige Art, mit der er den Mitarbeitenden begegnete. Schrieb, wie sehr ich hoffte, dass er bald wieder gesunden würde und appellierte vorsichtig an seine Selbstfürsorge.

Zurück an seinem Arbeitsplatz, liess er die Angestellten im Vertriebsgebäude wissen, dass er Einzelne im Laufe der nächsten Wochen zum Gespräch einladen würde. Er wolle sich einen Eindruck verschaffen über die Arbeitsbedingungen vor Ort. Am Tag darauf wurde ich in sein Büro gebeten.

Mir war übel. Fluten von Angst und Scham peitschten gegen meinen Kopf. Ich redete mir beschwörend zu, dass ich ja nichts Schlimmes verbrochen hatte. Doch die 200 Meter zum Redaktionsgebäude kamen mir vor wie ein Gang zum Schafott.

Der Händedruck des Erneuerers war fest und warm. Er bot mir den Platz vor seinem Schreibtisch an. Noch stehend sagte er mit ernster, berührender Stimme: Ich möchte mich für Ihre Karte bedanken. Angst und Scham schnürten mir die Kehle zu und doch hörte ich mich schnippisch und sperrig entgegnen: Sowas bedarf doch keinen Danks. In den Augen des Erneuerers tauchte Verwirrung auf. Er setzte sich und sagte nach kurzer Pause in fragendem Tonfall und mit unsicherem Blick: Aber, ich habe mich sehr gefreut. 

Jetzt stieg Panik in mir auf. Ein ironisches Lächeln landete auf meinen Lippen, während ich mich jetzt fast spöttisch sagen hörte: Na, dann freut es mich auch. Jetzt wirkte die Mine des Erneuerers betreten. - Mir war elend zumute. Wir fassten uns beide blitzschnell wieder, als er das Thema wechselte und mich nach meiner Einschätzung der Vertriebsleitung fragte. Ich antwortete kurz und diplomatisch und sah ihm dabei unbekümmert ins Gesicht. Meine Ausführungen beendete ich mit einem fragenden Blick und den Worten: Aber, das wissen Sie ja alles selbst. Er antwortete ernst und leise: Ja. Nie zuvor hatte ich mich einem Menschen so nahe gefühlt und nie zuvor war ich mir erbärmlicher vorgekommen.

Wann immer ich den Erneuerer aus der Ferne erblickte, nickte oder winkte ich im freudig zu. Begegnungen in der Nähe wich ich aus.

Eines Tages überbrachte sein engster Mitarbeiter eine Nachricht in unser neu bezogenes Grossraumbüro. Er liess ausrichten, dass ihm zu Ohren gekommen sei, wie belastend die Arbeitsatmosphäre im offenen Büro für einige der Angestellten sei. Der engste Mitarbeiter erklärte uns, dass es möglich sei, Trennwände aufzustellen - flexible oder fest installierte, lichtdurchlässige oder dichte. Ausserdem werde über Schall reduzierende Massnahmen nachgedacht. Der Erneuerer lade uns dazu ein, Wünsche oder Vorschläge direkt an ihn zu richten.

Reklamationen hatte es tatsächlich viele gegeben, aber - wie zu erwarten - wollte keine meiner Kolleginnen auf die Einladung reagieren. Sie baten mich darum, die Sache in die Hand zu nehmen. In mir begannen Angst und Scham erneut wild um sich zu schlagen. Bei der blossen Vorstellung, dem Erneuerer demnächst wieder persönlich zu begegnen, wurde mir schlecht. In diesem Zustand verfasste ich die Mitteilung. Sie lautete: In Abstimmung mit meinen Arbeitskolleginnen möchte ich Sie dringend um Bereitstellung jener Materialien bitten, die den grösstmöglichen Sicht- und Schallschutz gewähren. Ich unterzeichnete handschriftlich und schickte die Mini-Nachricht ab. Wochenlang hörte und sah ich nichts mehr vom Erneuerer. Erst kurz bevor er nach erfüllter Mission den Verlag verlassen sollte, erhielt ich nochmals eine Einladung in sein Büro. Der Termin:  Freitag um 17 Uhr.

Am Tag X waren alle Kolleginnen, wie an jedem Freitag, um 16.30 Uhr ins Wochenende entschwunden. Bei mir wuchs die Nervosität. Um 16.50 Uhr klingelte das Telefon. Der Sekretär des Erneuerers bat mich in dessen Namen um etwas Geduld. Es könne sein, dass er sich beim gerade stattfindenden Gespräch in der Druckerei leicht verspäten würde (Die Druckerei war das Gebäude direkt neben dem Vertrieb).

Ich wartete, tat als ob ich mich den Vertriebsarbeiten widmen würde und war mit aller Kraft darum bemüht, die auftauchenden Phantasie-Szenarien sofort wieder in die Tiefen zu verbannen - für den Fall, dass der Erneuerers durch Wände und in Köpfe blicken konnte. Bald stand ich unter Hochstrom, ging nun mehr und mehr davon aus, dass der Erneuerer demnächst im entleerten Vertriebsgebäude auftauchen und an die Tür klopfen würde.

Um 17.20 Uhr rief der Sekretär wieder an. Der Erneuerer hatte ihn noch einmal vom Nachbargebäude aus kontaktiert und liess mich bitten, doch auf jeden Fall noch zu bleiben und im Vertriebsbüro zu warten. Betont lässig sagte ich: O. K. und schon gut. Wieder beschäftige ich mich zum Schein mit Papier. Dieses Mal zog ich eine Verlagsstatistik aus der Schublade, die seit Wochen unberührt dort lag. Der Blick auf die hirnbetäubenden Zahlenreihen, half mir Fassung zu bewahren.

Draussen war es dämmrig geworden. Ich war jetzt ganz sicher, dass der Erneuerers demnächst unter dem Türrahmen auftauchen würde. Um 18.10 Uhr, klingelte das Telefon abermals. Die Stimme des Sekretärs klang jetzt leicht gereizt, als er mich – zu meinem grossen Erstaunen - ins Büro seines Vorgesetzten bat. Mit zitternden Knien machte ich mich auf den Weg über den langen Parkplatz ins Gebäude der Redaktion - froh darüber, dass die eingebrochene Dunkelheit mich verhüllte.

Das Vorzimmer war leer. Als ich eintrat, sah ich durch einen offenen Türspalt ins hell erleuchtete Büro des Erneuerers. Er sass an seinem Schreibtisch, neben ihm der Sekretär. In aller Ruhe blätterte der Erneuerer in der Postmappe herum, las Dokumente und unterschrieb. Ich klopfte kurz an die offene Tür und trat ein. Der Sekretär sah auf und lächelte mir müde zu. Der Erneuerer führte seine Tätigkeit schweigend fort, ohne seinen Blick zu heben. Mir schwindelte. Unaufgefordert setzte ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Die aufgeladene Raumatmosphäre kroch mir unter die Haut. Ich war alarmiert. Schliesslich übergab der Erneuerer die Mappe an den Sekretär, immer noch ohne mich eines Blickes zu würdigen. Jetzt war ich auf alles gefasst.

Kaum hatte der Sekretär die Tür hinter sich geschossen, blickt der Erneuerer mir forschend in die Augen und fragte streng: Frau Löffler, was wollen Sie von mir?

Wie in Trance erhob ich mich wortlos von meinem Stuhl. In einem Zustand gefühlter Körperlosigkeit bewegte ich mich Richtung Ausgang. Der Erneuerer musste lautlos aufgesprungen sein. Plötzlich stand er neben mir und öffnete höflich die Tür. Sein Auf Wiedersehen beantwortete ich nicht. Ich verschwand ohne einen Blick zurück. Der Denkzettel zeigte kathartische Wirkung.

Ich verliess den wesensfremden Arbeitsplatz und verschrieb mir eine längere Auszeit.
Nach einigen Wochen der inneren Erstarrung begann ich aufzuschreiben, was an Unverdautem aufzusteigen begann. Mutig begab ich mich zurück in lang vergangene Zeiten. Schnell wurde deutlich, dass ich schon früh in meinem Leben Phantasierefugien erschaffen hatte, um der realen Welt, die mir zu freudlos erschien, zu entfliehen. Schon als Kind hatte ich aus aufgeschnappten Worten und inspirierenden Bildern immer wieder Traum-Szenarien kreiert, anstatt im «wahren» Leben auf Entdeckungsreise zu gehen. Mein Innenleben hatte sich von Jahr zu Jahr mehr entfremdet von der Aussenwelt. Es reagierte beschämt und panisch, wenn es einem anziehenden Menschen aus Fleisch und Blut begegnete oder eine inspirierende Tätigkeit entdeckte, bei der die Gefahr bestand, dass es ungewollt zum Vorschein käme.

Unzählige Notizbücher füllten sich mit Erinnerungsfetzen und abstrakt formulierten Warnungen oder Wunschvisionen. Ein Drunter und Drüber von Momentaufnahmen übermalt von farbigen Symbolzeichen oder zusammenfassenden Buchstabenkürzel. Das Rätsel um die Ursachen meiner Sonderlichkeit fand viele Antworten und warf Fragen in Hülle und Fülle auf. Vermutlich hätte ich mich noch jahrelang malend und kritzelnd mit mir selbst auseinandersetzen können. Doch schliesslich ging das Geld zur Neige. Und da keine der unzähligen Notizen eine konkrete Erkenntnis enthielt, wie ich in neue berufliche Gefilde gelangen könnte, musste ich mich Wohl oder Übel um eine Stelle im alten Gewerbe bemühen. 

Das Glück war mir hold. Es gab trotz Rückkehr ins Verlagsmetier eine günstige Veränderung. Ich fand eine Arbeitsstelle in der Schweiz. Kaum hatte ich meinen Wohnsitz dorthin verlegt, spürte ich bereits, dass mir die Luftveränderung gut bekam. So gelang mir – viele Jahre später - dort dann auch die eigene Erneuerung. 

Ich brachte meine Erinnerungen in schlichtem Schwarz-weiss und leserlichen Druckbuchstaben noch einmal zu Papier. Als ich die letzten Seiten eingetippt hatte, machte sich enorme Erleichterung breit. Ein Meilenstein war in Bewegung geraten.

Bald darauf nahm ich meine Lebensgeschichte übersichtlich gestaltet und säuberlich gebunden persönlich entgegen. – In diesem feierlichen Augenblick, das Büchlein in Händen, versprach ich mit Inbrunst und doch nüchtern klar: Was immer das Leben mir noch präsentieren wird, ich werde fortan Gesicht zeigen im Umgang mit der eigenen Sache.

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Drei Kindheitserinnerungen