Schwimmkurs auf Italienisch

Aus: Mathias Zahner; Momo, Vom Stinkbombenkönig zum Goldchlümpli

Unsere Eltern hatten zu einer Zeit, als noch niemand von Bio sprach, die erste Biobrot-Bäckerei-Konditorei in St. Gallen (Schnitzer-Patent für die gesamte Schweiz). Mit allen Bäckern, Konditoren, Verkäuferinnen, «Ausläufern» und «Dienstmädchen», wie man damals zu sagen pflegte, waren wir eine Grossfamilie. Viele von ihnen wohnten, vor allem anfänglich, bei uns. Diese Familienkultur, dieses «enge» und trotzdem «freie» und vielfältige Zusammenleben, die Betriebsamkeit, die vielen verschiedenen Charaktere und Persönlichkeiten prägten bestimmt meine beiden Schwestern Annamarie und Monika und natürlich auch mich, als Ältesten und «Spurenleger» von uns dreien.

Mein damaliges grosses Idol war Amano. Ein Bäcker aus Italien. Er war Hobbyboxer, und am Sonntagmorgen, während die meisten von uns beim Frühstück sassen, erschien er häufig mit einem blauen Auge, das er sich am Vorabend bei Boxkämpfen im Ring ein gefangen hatte. Ab und zu war er ziemlich lädiert, obwohl er oft an einem Lederboxsack im Bäckerzimmer trainierte. Ich war damals noch im Kindergarten, vielleicht anfangs Primarschule. Amano hatte einen «Bürstenschnitt». Obwohl er Sportler war, rauchte er in der Freizeit sehr viel, wie es damals noch so üblich war. Ich wusste, dass er seine Frisur mit dunklem Bier festigte, denn alle diese Haargels gab es damals noch nicht. Natürlich wollte ich meinem Idol auch diesbezüglich nacheifern und sagte unserem Quartier-Coiffeur Frank, er solle mir auch eine solche Frisur schneiden. Coiffeur Frank trug stets eine weisse Schürze, wie ein Arzt. Ein fetter, schwarzer Pudel wackelte bei ihm auch immer im Salon herum. Ich ging eigentlich nie gerne zu ihm. Er und seine Frau, sie zuständig für die Damen, waren gute Kunden von uns. Vor allem in der Konditorei. Das sah man ja deutlich an der Figur von Frau Frank und ihrem dicken Pudel. Und diese Kundenbindungen verpflichteten damals noch. Als ich ihm nun meinen Frisurwunsch mitteilte, weigerte er sich radikal, diesem nachzukommen. Seine Begründung: Ein Bürstenschnitt müsse täglich gepflegt werden, was ich ja ohnehin nie machen würde. Der strenge Coiffeur Frank also jenseits der Geschäftsphilosophie «Der Kunde ist König»! Für mich brach eine kleine Welt zusammen! Mein damals noch so fragiles Identitätskonzept wurde arg durchgeschüttelt. Trotzdem muss ich Coiffeur Frank im Nachhinein attestieren, dass er nicht gänzlich unrecht hatte. Er verfügte, nebst der Handhabung seiner Schärmaschine, welche manchmal recht zwickte, zusätzlich über einen intuitiven, prospektiven Weitblick. Denn viele sagten Jahre später bezüglich meines wilden Lockenkopfs, ich hätte eine gewisse äusserliche Ähnlichkeit mit einem «verrückten Professor» oder sogar mit Albert Einstein.

Obwohl ich schon immer sehr sportlich war, hatte ich mit dem Schwimmenlernen einfach meine Mühe. Meine beiden jüngeren Schwestern Annamarie und Monika konnten bereits schwimmen. Und ich paddelte immer noch mit einem Schwimmgurt, meistens aus Kork, in den Nicht-Schwimmer-Becken oder so gar im «Seichbädli» herum. So kam es, dass an einem Samstagnachmittag Amano zu meiner Mutter sagte: «Ich gehe heute Nachmittag ins Volksbad und nehme Mathias mit.» Ich freute mich wirklich sehr, mit meinem Idol Amano – nur wir beide zu zweit – in das altehrwürdige Hallenbad, das heute unter Heimatschutz steht, zu gehen. Nach dem Planschen packte Amano mich plötzlich mit seinen kräftigen Boxerarmen, trug mich auf das Einmeterbrett und sagte zu mir: «Weisst du, wie man in Italien schwimmen lernt?» Noch bevor ich etwas sagen konnte, liess er mich in das tiefe Blau fallen. Ich ging unter Wasser auf und ab, strampelte wild, alles sprudelte um mich, ich war in panischer Angst, zu ertrinken. Plötzlich umklammerten seine kräftigen Arme meine Beine und brachten mich wieder an die Wasseroberfläche. Für mich war dieses Erlebnis natürlich ein grosser Schock. Und als unsere Mutter davon erfuhr, war sie ausser sich. Sie redete mit Amano «Klartext», dass man in der Schweiz andere Schwimmlernmethoden kenne als diese italienische «Schock-Therapie». Und tatsächlich war ich von diesem einschneidenden Erlebnis lange Zeit etwas traumatisiert und überwand meine Schwimmblockade erst viel später.

Schwimmen ist noch heute nicht meine Paradedisziplin, obwohl ich auch schon einen Triathlon bestritten habe. In Durban, Südafrika, bei den «World Transplant Games» 2013 reichte es mir in dieser Disziplin sogar für eine Bronze-Medaille. Aber nur deshalb, weil ich beim Laufen extrem schnell war und dort sogar Gold holte. Und etwas stolz bin ich, dass ich diesen Sommer, kurz vor Saisonschluss, in der Badi Gossau mit zweien meiner Enkel, Antonio und Emilio, vom Dreimeterbrett «gejumpt» bin. Und ihre Freunde dann staunend zu ihnen sagten: «Was, das ist euer ‹Momo›-Grossvater?» Und als ich im August dieses Jahres mit unserer älteren Tochter Cathrine die Zürichsee-Überquerung machte, sagte sie zu mir: «Papi, du bist schon etwas langsam, die Beine musst du viel stärker Richtung Gesäss nehmen und die Füsse leicht quer stellen und dann voll durchziehen.» Ich zurück: «Ich weiss, du meinst es gut mit mir, aber jetzt bitte keine Schwimmlektion durchführen. Die Fischerstube ist noch sehr weit weg.» Und als wir nach über einer Stunde das Ziel erreicht hatten, eine warme Bouillon und Risotto bekamen, uns gegen seitig gratulierend in die Arme nahmen, war der damalige «Amano-Schwimm-Schock» vollends überwunden.

Amano ist schon lange gestorben. Er zog mit seinem Schätzchen, die im Ausgang immer extreme «Stöcklischuhe», wie wir sie damals nannten, trug, wieder zurück nach Italien. Dort führte er viele Jahre sehr erfolgreich eine eigene Bäckerei, verwöhnte die Italiener mit gesundem, körnigem, knusprigem, dunklem «Zahner-Amano-Brot». So wie er es bei uns jahrelang gelernt hatte. Ja, lieber Amano, nun sind bereits weit über 60 Jahre vergangen. Die Erinnerung an deinen italienischen Schwimmkurs ist geblieben. Das damalige Trauma definitiv verarbeitet. Und die vielen tollen Erlebnisse mit dir, meinem damaligen grossen «Bürstenschnitt- und Boxer-Idol», haben diesen einen, sagen wir es mal so, «glitschig-nassen» Ausrutscher mehr als aufgewogen. Danke dir für alles, was du mir auf meinen Lebensweg mitgegeben hast.

 
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