Prolog

Aus: Luisa Helena, reisefrei

Es begann alles im Nachtzug nach Budapest. Mein Bruder, der gleich neben dem Hauptbahnhof Zürich wohnt, drückt mir noch ein Bier in die Hand: «So schläft es sich besser», meint er schmunzelnd. Auf ein neues Abenteuer, einen neuen Lifestyle, denke ich mir, während ich mit meinem schweren Reiserucksack auf dem Rücken die Strasse in Richtung Bahnhof davon spaziere.

Schnell habe ich mein Vierer-Damen-Abteil gefunden und es mir im oberen Liegebett, eingemummelt in die weissen Bettlaken, gemütlich gemacht. Da klopft es an der Tür und der Schaffner prüft unsere Fahrkarten. «Gute Nacht! Und verschliessen Sie die Türe; zwischen ein und fünf Uhr nachts kommen die Diebe», meint er beiläufig. Entsetzt schaue ich meine drei Mitreisenden an. Meint er das ernst? Droht Gefahr? Und wieso passieren hier Überfälle nach einem geregelten Zeitplan?

Die drei Mitreisenden scheinen nicht besonders irritiert zu sein, sprechen sich in einer mir fremden Sprache ab und bestätigen mir, dass das immer so sei. Zwei von ihnen reisen regelmässig mit dem Nachtzug von der Schweiz nach Ungarn und danach weiter in die Ukraine. Die angekündigten Diebesbanden würden vor allem in einer Region agieren, in der wir nach ein Uhr nachts durchfahren. Ich solle unbedingt eine von ihnen wecken, falls ich nachts auf die Toilette müsse. Die Abteiltür soll immer mit dem Riegel verschlossen bleiben.

Wie dankbar bin ich doch in diesem Moment für den brüderlichen Rat und das leichte Beruhigungsmittel in Form eines Dosenbiers. Schnell stürze ich dieses runter, damit ich den Gang zur Toilette noch erledigen kann, bevor ich vor unserem Abteil womöglich noch eine unerwünschte Begegnung mache.

Ein einwöchiges Training in Budapest - gemeinsam mit etwa fünfundzwanzig anderen neuen Reiseleiterinnen und Reiseleitern aus Europa - soll mich auf meine neue Aufgabe vorbereiten. Ob wir alle engagiert werden und in welche Regionen der Reiseveranstalter uns im Anschluss senden wird, ist noch unklar. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ein one-way Ticket gebucht. Und finde das Gefühl grossartig!

Vom ersten Moment an fühle ich mich unter diesen mir anfangs noch unbekannten Menschen wohl. Unser Gruppe sprudelt vor Energie und interessanten Lebensgeschichten. So viele unterschiedliche Individuen treffen aufeinander, was zu einer spannend Gruppendynamik und zu vielen bereichernden Gesprächen führt. In den Pausen tauschen wir uns aus, nach den offiziellen Workshops lernen wir Budapest und uns gegenseitig besser kennen.

Mit der Lettin spaziere ich abends durchs jüdische Viertel, um meine Probe-Stadttour für den nächsten Tag vorzubereiten, und knabbere mit ihr im Pub Szimpla Kert Karotten zu einem Bier. Mit der Engländerin hüpfe ich mit einer Gruppe von Ungarischen Volkstänzern durch eine kleine, lokale Bar, an der wir per Zufall vorbeigekommen sind, während der Rest der Gruppe uns lachend beobachtet und laut zujubelt. Wir fragen uns, wie wir nur hier gelandet sind und geniessen den lustigen Abend, den wir unseren eigenen Gästen wohl als local experience verkaufen würden. Mit dem in Spanien wohnenden Iren plaudere ich bei mehr als nur einem Bier über seine Erlebnisse in Kenya, ein Land das mich schon länger fasziniert, und über unseren neuen Arbeitgeber, bevor wir gemeinsam mit den anderen schon wieder viel zu spät zurück zum Hotel torkeln. Der erfahrene Segel-Guide aus Griechenland erzählt mir von den Reisen auf dem Segelboot und wie wichtig das Gästefeedback für unsere Anstellung und unser Gehalt ist. «Wenn das Feedback deiner Gäste gut ist, ist alles andere egal», meint er schulterzuckend. Und mit den anderen beiden Griechen gehe ich vor den Workshops jeweils zum kleinen Café gleich um die Ecke, denn wir alle drei können mit dem dünnen Filterkaffee im Hotel nur wenig anfangen.

Nach vier Tagen teilt mir Max, unser Vorgesetzter und Verantwortlicher für das Team der Region Italien, mit, dass mich der Reiseveranstalter gemeinsam mit Laura, meiner italienischen Zimmernachbarin, direkt im Anschluss an diese erste Woche auf den Trainingstrip nach Italien schickt. Wir werden während zwei Wochen eine erfahrene Reiseleiterin mit ihrer Gruppe begleiten. Danach sind wir ausgebildet und starten mit unseren ersten eigenen Gästen. Mich möchte er vor allem auf der dreiwöchigen Reise von Rom nach Paris einsetzen, die auch durch die Schweiz führt. «Mit deinen Sprachkenntnissen bist du wie gemacht für diese Tour», sagt er mir. Wie aufregend jetzt geht es bald richtig los, denke ich mir. So ganz kann ich mir das aber doch noch nicht vorstellen. Ich mit einer Gruppe in Italien? Das letzte Mal war ich während meiner Schulzeit vor etwa zehn Jahren in Rom. Und an viel mehr als an die brühende Hitze während den endlosen Vorträgen unseres Lateinlehrers zwischen den antiken Gesteinshaufen und an sehr viel günstigen Wein auf der Heimreise im Nachtzug kann ich mich nicht erinnern. «Mach dir keine Sorgen, Luisa», bestärkt mich Max. «Die meisten unserer Gäste kommen aus Australien oder Neuseeland. Für diese bist du als Schweizerin doch auch in Italien ein Local. Und schliesslich wohnst du sowieso gleich an der italienischen Grenze, wer kennt da schon den Unterschied», schmunzelt er, drückt mir eine rote Verbandstasche für den Notfall - «die müsst ihr jederzeit bei euch tragen», wurde uns im Safety Training eingetrichtert - und die Unterlagen für meine Geschäftskreditkarte in die Hand. Jetzt geht es also tatsächlich los, geht mir nochmal durch den Kopf und mit einem Lächeln im Gesicht und einem aufgeregten Gefühl im Bauch stehe ich auf und verlasse das Sitzungszimmer.

Zwei Tage später - leicht verkatert nach dem letzten Abend mit den anderen frisch gebackenen Reiseleiterinnen und Reiseleitern - steige ich gemeinsam mit Laura ins Flugzeug nach Rom und merke, wie mir die ganze Truppe aus der Trainingswoche wohl bald fehlen wird. Denn ab sofort sind wir auf uns alleine gestellt, alleine verantwortlich für unsere Gästegruppen auf den Reisen durch die verschiedenen Regionen Europas, verbunden nur noch durch unsere Messenger-Gruppe mit dem Namen «Mystery Gang», in Hommage an eine Anschrift an einer Bar in Budapest. Auch wenn ich diese verschiedenen Menschen erst seit knapp einer Woche kenne, so habe ich doch so viele von ihnen bereits fest ins Herz geschlossen. Die aufgestellte Art und positive Stimmung haben mir in den vergangen Tagen so viel Energie und Lebensfreude zurückgegeben. Ich fühle mich wohl hier. Ich weiss zwar noch nicht ganz genau, was mich in den nächsten Monaten in meiner neuen Aufgabe erwarten wird, aber ich spüre, dass ich genau da bin, wo ich hingehöre.

[www.reisefrei.ch]

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Eine graue Maus beschliesst, Bombshell zu werden

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